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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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sämtlicher in seinen Romanen geschilderten Typen aus. Für Verbrechen und Strafe benennt er: Raskolnikow, dessen Mutter, Swidrigajlow, Marmeladow; und für die Bösen Geister : Lebjadkin, dessen Schwester, Lembke, Kirillow. Man sieht: hier wird sehr freizügig mit der Zuordnung »geisteskrank« umgegangen. Und wenn Robert Gaupp psychopathologische Züge im Autor Dostojewskij für dessen Kompetenz bei der künstlerischen Gestaltung psychopathologischer Gestalten voraussetzt, so bleibt auch das ein zweifelhaftes schaffenspsychologisches Argument, denn schließlich hat ja Dostojewskij auch Aljoscha Karamasow und den Starez Sossima überzeugend veranschaulicht.
    Aus der Tatsache, dass sich Swidrigajlow in Verbrechen und Strafe und Stawrogin in den Bösen Geistern an minderjährigen Mädchen vergehen, wurde geschlossen, dass Dostojewskij hier eine eigene Untat verarbeitet hat. Selbst Thomas Mann transportiert noch in seiner Abhandlung Dostojewskij – mit Maßen aus dem Jahre 1946 dieses vielzitierte Gerücht (wenn auch schließlich als »erlogene Beichte«). Wladimir Sacharow hat die Phantastik solcher Unterstellung mit aller Sorgfalt unter dem Stichwort »Fakten contra Legende« (1978) nachgewiesen. [154]  
    Berechtigt scheint indessen, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Dostojewskijs Epilepsie und jenen Gestalten seiner Dichtung anzunehmen, die an Epilepsie leiden. Dieses Faktum wird von Joseph Meer 1930 nur gestreift. Auf diesem Sektor liegen inzwischen exakte Forschungsergebnisse vor, die Dostojewskijs sehr freien Umgang mit der Selbsterfahrung seiner eigenen Epilepsie belegen. An Epilepsie leiden Murin in der Wirtin , Nelly in den Erniedrigten und Beleidigten , Fürst Myschkin, der »Idiot«, Lisa Trusotzkaja, die uneheliche Tochter Weltschaninows, im Ewigen Gatten , Alexej Kirillow in den Bösen Geistern und Pawel Smerdjakow in den Brüdern Karamasow . In all diesen Fällen stellt Dostojewskij die Epilepsie als »traumatisch« dar (das heißt als reaktiv auf die Lebenssituation), während er genau wusste, dass seine Epilepsie »genuin« (das heißt hereditär) war, was er aber, wie nachgewiesen wurde, nicht wahrhaben wollte. [155]   Die Epilepsie in seiner Dichtung ist ausschließlich Reaktion auf inakzeptable Wirklichkeit. Die Kenntnis der Epilepsie Dostojewskijs kann von dieser poetischen Eindeutigkeit nur ablenken oder sie sogar ganz verdecken. Von einer literarischen Selbstdarstellung Dostojewskijs kann also auch hier nicht gesprochen werden. Schaffenspsychologie kann aber zur Einsicht in die Verwandlung beitragen, die Dostojewskijs eigene Krankheit als dargestellte Krankheit in seinen Romanen durchgemacht hat. »Verwandlung« muss denn auch zum Leitbegriff werden, wenn von Details aus der Lebensgeschichte Dostojewskijs und ihrer Umsetzung in die Wirklichkeit der Kunst sinnvoll die Rede sein soll. Es bleibt dabei jedem unbenommen, die Meinung zu vertreten, Dostojewskijs Leben sei genau so spannend wie seine Romane.
    Hier die Eckdaten in der in unserem Zusammenhang gebotenen Kürze: Fjodor Michajlowitsch Dostojewskij, russischer Schriftsteller, geboren am 30. Oktober (11. November neuen Stils) 1821 in Moskau, gestorben am 28. Januar (9. Februar) 1881 in Petersburg. 1837 Tod der Mutter. 1839 Tod des Vaters, der Arzt am Moskauer Marien-Hospital war. Die Umstände seines Todes auf freiem Feld unter seinen leibeigenen Bauern sind ungeklärt. Dass die Leibeigenen ihren Herrn ermordeten, ist angezweifelt worden. Ärztlich bescheinigt wurde ein tödlicher Schlaganfall.
    Ab 1838 besucht Fjodor Dostojewskij zusammen mit seinem Bruder Michail die Militärische Ingenieursschule in Petersburg. Nach Abschluss 1843 ist Fjodor als technischer Zeichner tätig, gibt diese Beschäftigung aber schon ein Jahr später auf, um Schriftsteller zu werden. Sein erster Roman, Arme Leute , erscheint 1845 und wird von Wissarion Belinskij, dem führenden Literaturkritiker, enthusiastisch begrüßt.
    Am 23. April 1849 wird Dostojewskij um fünf Uhr morgens in seiner Petersburger Wohnung wegen Teilnahme an den Treffen des als revolutionär eingestuften Kreises um Michail Butaschewitsch-Petraschewskij verhaftet. Er ist 27 Jahre alt. Untersuchungshaft in der Peter-Pauls-Festung; im Dezember Verurteilung zum Tode durch Erschießen. Scheinhinrichtung und Begnadigung auf dem Richtplatz durch den Zaren Nikolaus I. zu vier Jahren Zuchthaus in Sibirien sowie anschließendem Dienst als gemeiner Soldat im Siebenten Sibirischen

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