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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Lebens aber war Dostojewskij von Charles Dickens begeistert ( Pickwick Papers 1837, Oliver Twist 1838, David Copperfield 1850, Bleak House 1853), sah ihn immer hoch über sich. Als er dies einer Dame bekannte, meinte sie: das liege daran, dass er selber ja niemals Dostojewskij lesen könne. Ein kluges und schönes Kompliment. Er schätzte aber als junger Leser auch Ann Radcliffes The Mysteries of Udolpho (1792), jenen englischen Schauerroman, auf den noch der Verteidiger Dmitrijs in den Brüdern Karamasow explizit Bezug nimmt (Buch XII, Kapitel 11: »Kein Geld – kein Raub«).
    Aus der deutschen Literatur waren es insbesondere Schiller und E. T. A. Hoffmann, die ihn zutiefst beeindruckt und beeinflusst haben. An Schiller kommt ihm das besondere Interesse an den Verfehlungen des Menschen entgegen. So lässt Schiller seine Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre mit der Feststellung beginnen: »In der ganzen Geschichte der Menschheit ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung.« Bei E. T. A. Hoffmann wiederum wird der Wahnsinnige ausgezeichnet: In den Serapions-Brüdern (vierter Band, siebenter Abschnitt) lesen wir (Cyprian sagt es): »dass einiger Wahnsinn, einige Narrheit so tief in der menschlichen Natur bedingt ist, dass man diese gar nicht besser erkennen kann als durch sorgfältiges Studium der Wahnsinnigen und Narren«. Bei Schiller ist das Paradigma des Menschen der Verbrecher, bei Hoffmann der Wahnsinnige. Dostojewskij kombiniert diese beiden Paradigmen. Wie für Schiller und Hoffmann wird für ihn das Wesen des Menschen nicht im Normalen und Vorbildlichen am deutlichsten sichtbar, sondern im Ausgefallenen, im Zerrbild, also in der Abnormität. Dostojewskijs fünf große Romane haben dafür die verschiedensten Veranschaulichungen geliefern.
    Betont man zu Recht solche Abhängigkeit des werdenden Schriftstellers von westeuropäischen Vorbildern, so darf darüber nicht die selbstverständliche Vertrautheit Dostojewskijs mit seiner eigenen russischen Tradition vergessen werden. An der Spitze Puschkin und Gogol. Von Puschkin übernimmt Dostojewskij, der »geniale Leser« (wie Alfred Boehm ihn nannte), etwa das Grundmuster der Erzählung Pique Dame für seinen populärsten Roman Verbrechen und Strafe , und die Geschichten des verstorbenen Iwan Belkin , Puschkins Meisterwerk der Kurzprosa, bestimmen die Konzeption des Grünen Jungen . Gogols Erzählungen Die Nase und Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen hinterlassen in Dostojewskijs frühem Roman Der Doppelgänger stilistisch und konzeptionell unverkennbare Spuren. Hartnäckig hält sich allerdings das Gerücht, Dostojewskij habe gesagt: »Wir kommen alle aus Gogols Mantel.« [159]   Dieses Zitat lässt sich aber durch keine vorliegende Äußerung Dostojewskijs belegen und ist auch in der Sache nur bedingt gültig, weil vor allem unklar bleibt, wer denn mit »wir« gemeint ist. Mit demselben eingeschränkten Recht könnte man Puschkins Erzählung Pique Dame an den Anfang der russischen Literatur stellen. Der unheroischen Zentralfigur in Gogols Erzählung Der Mantel steht darin Puschkins Hermann als durchaus heroische Zentralfigur gegenüber.
    Doch wir wollen nicht das hier verfolgte Argumentationsziel aus den Augen verlieren: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller soll nachgezeichnet werden. Und das im Kontext der Beziehungen zwischen seinem Leben und seinem literarischen Werk. Man darf nicht vergessen, zum Leben eines Autors gehören nicht nur seine Liebesaffären und sein Umgang mit den politischen Realitäten seiner Zeit, sondern auch seine Lektüre. Dostojewskij war ein unersättlicher Leser. Wer aber wollte entscheiden, wovon ein Autor intensiver geprägt wird: von seinen Lebensumständen oder von seinen Präferenzen bezüglich dessen, was er mit Begeisterung liest? Dostojewskij könnte es selber nicht sagen. Was wir, seine Leser, aber sagen können, ist, welchen Weg Dostojewskij mit seiner Tätigkeit als Schriftsteller von den Armen Leuten (1846) bis zu den Brüdern Karamasow (1880) in thematischer und in erzähltechnischer Hinsicht zurückgelegt hat. Seine Entwicklung als Schriftsteller gehört in einem viel wesentlicheren Sinne als seine Liebeserlebnisse und seine Reaktionen auf die politischen Zwänge seiner Umgebung zu seinem Leben. Ja, mit seiner literarischen Produktion führt der Schriftsteller Dostojewskij

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