Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Name, den Swetlana Geier im Rückgriff auf meinen Vorschlag mit Viehhofen übersetzt hat, damit dem deutschen Leser der allegorische Gehalt des von Dostojewskij erfundenen Ortsnamens nicht verlorengeht: Skotoprigonjewsk leitet sich von russisch »skot« (= Vieh) und »prigon« (= Antreiben, Hineintreiben des Viehs) ab. Der Spieler »spielt« (im doppelten Sinne) in Bad Homburg, Wiesbaden und Baden-Baden, wo Dostojewskij selbst gespielt hatte. Alle drei Orte finden ihr Sinnbild im fiktiven Roulettenburg, das, vom Autor zusätzlich eingebracht, von den empirischen Details aller drei lebt. Was aber erbringt solches Wissen von Dostojewskijs Rückgriffen auf die empirische Wirklichkeit des Selbsterlebten mit Blick auf die sachgerechte Interpretation der zur Debatte stehenden literarischen Texte? Die Antwort kann nur lauten: gar nichts.
Nun beschränkt sich der Konnex zwischen Leben und Werk aber nicht auf das, was ein Autor aus seiner persönlichen empirischen Wirklichkeit nachweislich in sein Werk übernommen hat. Schaffenspsychologie hat es vor allem auch mit den thematischen Zuspitzungen eines Autors zu tun, die aus seiner Mentalität, seinem Charakter, seiner Gesinnung erklärt werden sollen. So bezeichnet Turgenjew Dostojewskij aufgrund seiner Vorliebe für die Darstellung sadistischer Verhaltensweisen verächtlich als »unseren de Sade«, und der Literaturwissenschaftler Nikolaj Michajlowskij nennt Dostojewskij ein »Talent der Grausamkeit«. Sigmund Freud wiederum vermerkt: »Dostojewskij hat es versäumt, ein Lehrer und Befreier der Menschen zu werden, er hat sich zu ihren Kerkermeistern gesellt; die kulturelle Zukunft der Menschen wird ihm wenig zu danken haben.« Seine Entwicklung wird folgendermaßen zusammengefasst: »Nach den heftigsten Kämpfen, die Triebansprüche des Individuums mit den Forderungen der menschlichen Gemeinschaft zu versöhnen, landet er rückläufig bei der Unterwerfung unter die weltliche wie unter die geistliche Autorität, bei der Ehrfurcht vor dem Zaren und dem Christengott und bei einem engherzigen russischen Nationalismus, eine Station, zu der geringere Geister mit weniger Mühe gelangt sind.« [153] Jedes Mal wird hier versucht, das literarische Werk dieses Autors aus dessen Gesinnung zu erklären. Weder Turgenjew noch Michajlowskij noch Freud argumentieren poetologisch. Das hätte eine poetologische Rekonstruktion des Einzelwerks erfordert, wodurch dieses als das Ergebnis der Entfaltung einer Sache vor Augen gekommen wäre, ein Unternehmen, für das die angemessene Begrifflichkeit noch gar nicht zur Verfügung stand. Die hier geleisteten Analysen der fünf großen Romane Dostojewskijs wollen zumindest Ansätze zu deren poetologischer Rekonstruktion liefern.
Was aber die Schaffenspsychologie betrifft, die ja auf verschiedensten Wegen der künstlerischen Kreativität auf die Spur kommen will, so ist hier der auch heute noch lesenswerte Forschungsbericht von Joseph Meer »Grundlagen einer psychopathologischen Beurteilung der Persönlichkeit und der Typen Dostojewskijs« hervorzuheben (in: »Psychologie und Medizin. Zeitschrift für Forschung und Anwendung auf ihren Grenzgebieten«, 4, 1930, S. 110–199). Er referiert Robert Gaupp, der über Dostojewskij Folgendes feststellt: »Es ist kein Zufall, daß die besten Schilderer pathologischer Naturen meist selbst pathologische Züge aufweisen. In der Ausmalung solcher krankhafter Seelenzustände gibt es in der neueren Literatur wohl keinen größeren als den Russen Dostojewskij. In ihm finden wir in der Tat die höchste medizinische Treue mit der tiefsten psychologischen Wahrheit und der erschütterndsten Tragik vereinigt. Dostojewskij war eben ein Künstler, der alles das innerlich erlebt und durchgemacht hat, was er in seinen ergreifenden Romanen schildert. Auch sonst wären noch viele (E. A. Poe in fast allen seinen Schriften, Maupassant in seinen späteren Arbeiten, Thomas Mann in den Buddenbrooks, Hermann Hesse in Peter Camenzind, Maxim Gorki in vielen Novellen und Romanen usw.) zu nennen, die in der lebenswahren Schilderung seelisch abnormer Menschen Hervorragendes geleistet haben; aber nirgends scheint mir die Höhe von Dostojewskijs Kunst erreicht zu sein .«
Noch der russische Psychiater Wladimir Tschisch hatte 1884 in seiner Abhandlung Dostojewskij als Psychopathologe die auffällige Tatsache, dass es in den Werken Dostojewskijs so viele »Geisteskranke« gebe, negativ angekreidet. Sie machen, so Tschisch, ein Viertel
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