Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
Vom Netzwerk:
Ich-Erzählers, weil sie ihn ganz um ihrer selbst willen beherrscht, eine marxistische Fixierung übersteigt: »Oh, es ging mir nicht ums Geld! Ich bin überzeugt, dass ich es abermals irgendeiner Blanche vor die Füße werfen und abermals in Paris drei Wochen mit eigenem Gespann für sechzehntausend Francs kutschieren würde. Ich bin mir sicher, dass ich kein Geizhals bin, aber verschwenderisch, wie ich glaube.« (Kap. 17) Das Geld verschafft der Titelgestalt die Möglichkeit einer ästhetischen Existenzform, die allerdings nicht auf Dauer lebbar ist. Die Spielsucht verklärt auch den Ort ihrer Aktion: »Mit welcher Begehrlichkeit starrte ich den Spieltisch an, der mit Louisdors, Friedrichsdors und Talern übersät ist, auf die kleinen Geldsäulen, die unter den Schaufeln der Croupiers in glühende Häufchen zerfallen, oder auf die bis zu einem Arschin langen Silberrollen, die sich um das Rad reihen. Noch bevor ich den Spielsaal betrete, schon zwei Säle vorher, ich brauche nur das Klingeln der ständig bewegten Münzen zu hören – und ich bekomme krampfartige Zustände.« [149]   Das lesen wir auf derselben Seite. Das aus der Realität des Spielcasinos hervorgehende Gegenteil sind der spießbürgerliche Fleiß und die Sparsamkeit des deutschen »Vaters«, über die sich unser russischer Ich-Erzähler mit besonderer Häme auslässt. Dostojewskijs christliche Eschatologie aber, die auf Bewusstseinsveränderung abzielt und nicht auf politischen Umsturz, bleibt gegen eine kommunistische Integration völlig immun.
    Herausragend im Spieler die Szene, die uns den Gewinner zeigt, dessen gewonnenes Geld so schwer ist, dass er kaum noch laufen kann: Alexej Iwanowitsch gewinnt wie im Trance. Wir befinden uns im vierzehnten Kapitel des Romans. Das Erzähltempo ist ungeheuer hoch. Der Leser überfliegt die Seiten nur so. Alexej hört ganz in seiner Nähe eine Stimme, die ihm auf Französisch mitteilt, dass er »hunderttausend Florin« gewonnen habe, und Alexej erinnert sich: »Plötzlich kam ich zu mir. Wie? Ich hatte an diesem Abend hunderttausend Florin gewonnen! Brauchte ich denn etwa mehr? Ich raffte die Banknoten zusammen, zerknüllte sie, füllte damit, ohne zu zählen, die Taschen, schob mein ganzes Gold zusammen, sämtliche Rollen, verstaute es und rannte aus dem Casino. Man lachte, als ich durch die Säle ging, über meine abstehenden Taschen und meinen unter der Goldlast schwankenden Gang. Ich glaube, sie wog wesentlich mehr als ein halbes Pud. Einige Hände streckten sich mir entgegen; ich gab jeweils so viel, wie die Hand in der Tasche fasste. […] Die Allee war so dunkel, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Das Hotel war etwa eine halbe Werst entfernt. […] schon am Ende der Allee packte mich plötzlich die Angst: ›Wie, wenn man mich jetzt überfällt, umbringt und beraubt?‹ Mit jedem Schritt verdoppelte sich meine Angst. Beinahe rannte ich. Plötzlich strahlte am Ende der Allee unser ganzes Hotel auf, im Glanz seiner zahllosen Lichter – Gott sei Dank: Ich war zu Hause! Ich stürmte die Treppe hinauf und stieß die Tür auf. Polina war da, sie saß auf meinem Sofa, vor einer brennenden Kerze, und hielt die Arme auf der Brust verschränkt. Sie sah mich bestürzt an, ich muß in diesem Moment seltsam genug ausgesehen haben. Ich blieb vor ihr stehen und begann, meine schwere Geldlast auf dem Tisch aufzuhäufen.« [150]  
    Was aber geschieht? Er schenkt ihr fünfzigtausend Florin, legt sie abgezählt bereit, schlägt ihr vor, morgen mit ihr zu verreisen, schläft erschöpft ein, sie bleibt die Nacht bei ihm und schleudert ihm die »fünfzigtausend« verächtlich ins Gesicht: »Das Bündel traf mich schmerzhaft, und die Scheine flatterten auf den Boden. Darauf stürzte Polina aus dem Zimmer.« Am Abend zuvor aber hatte er seinen Gewinn vor ihren Augen auf den Tisch gelegt: »Ein riesiger Haufen Banknoten und Geldrollen erhob sich auf dem Tisch, ich konnte meine Augen kaum abwenden, minutenlang vergaß ich Polinas Gegenwart ganz und gar. Bald ordnete ich die Stöße der Banknoten, die ich zusammensuchte, bald versuchte ich das Geld zu sortieren, bald ließ ich alles liegen und nahm die Wanderung durch das Zimmer auf, gedankenverloren, um plötzlich von neuem an den Tisch zu treten und von neuem das Geld zu zählen.« Polina bleibt regungslos auf ihrem Platz sitzen, betrachtet ihn unentwegt, und er muss feststellen, dass sie ihn hasserfüllt anblickt. Kurzum: Sie hat ihn durchschaut und weiß nun,

Weitere Kostenlose Bücher