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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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präsentiert hier die Verkennung in ihrer gefährlichsten Form. Denn alles, was Radomskij sagt, ist richtig, aber nichts, was er sagt, ist wahr. Und das Schlimmste: Er ist selbst fest davon überzeugt, nur das Beste für Myschkin zu wollen, indem er ihm hier und jetzt zur Selbsterkenntnis verhilft. Radomskij (ein Name, der polnische Herkunft signalisiert) erklärt alles und versteht nichts, wenn man das Begriffspaar »Erklären« und »Verstehen« terminologisch verwenden will. Wie aber reagiert der Fürst Myschkin, der sich dies alles anhören muss, auf solche Analyse? Sokrates hat, wie wir wissen, in einer vergleichbaren Situation einem Gesprächspartner, der ihn zu charakterisieren wagte, geantwortet: »Sie kennen mich, mein Herr!« (woran Nietzsche seine hintergründige Freude hatte).
    Myschkin aber antwortet: »Ja, ja; ja, ja«, schüttelt seinen Kopf und beginnt zu erröten. Das heißt: dem Fürsten Myschkin verschlägt es die Sprache, wenn man ihn verkennt. Er zieht sich in die Höflichkeit zurück und räumt ein: »ja, es stimmt beinahe alles, und wissen Sie, ich hatte tatsächlich fast die ganze Nacht davor nicht geschlafen, im Eisenbahnabteil, und auch die vorvorige Nacht nicht, und war sehr durcheinander …«
    Eine völlig andere Art der Verkennung liegt mit jenem diffamierenden Zeitungsartikel vor, der Myschkin moralisch desavouieren soll und von offener Bosheit gekennzeichnet ist. Wiederum wird die gesamte Romanhandlung rekapituliert:
    »Unser Erbe ist vor einem halben Jahr im Winter in ausländischen Gamaschen und in einem ungefütterten Mantel, vor Kälte zitternd, aus der Schweiz, wo er seine Idiotie kurieren wollte (sic!), nach Russland zurückgekehrt. Man muss zugeben, dass er Glück hatte, so dass er, abgesehen von seiner interessanten Krankheit, die er in der Schweiz kurieren sollte (kann man denn Idiotie kurieren, man stelle sich das nur vor?!), die Wahrheit des russischen Sprichwortes bewies, dass eine gewisse Art von Menschen immer Glück hat! Man urteile selbst: nach dem Tode seines Vaters […] blieb unser Baron als Säugling zurück und wurde von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer an Kindes statt aufgenommen. […] Der Knabe, letzter Spross seines Stammes, blieb aber ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des Fleurs nützten nichts, und ihr Zögling konnte bis zum zwanzigsten Lebensjahr keine Sprache sprechen, nicht einmal die russische. Das Letztere ist übrigens verzeihlich. Endlich keimte in P.’s [Pawlischtschews] russischem Gutsbesitzerhirn der phantastische Gedanke auf, man könnte dem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen; übrigens eine logische Idee: ein Müßiggänger und Rentier war imstande sich einzubilden, man könnte für Geld auf dem Markt, und besonders in der Schweiz, sogar Verstand kaufen. Die Kur bei einem berühmten Professor in der Schweiz dauerte fünf Jahre und verschlang viele Tausende: der Idiot wurde dabei natürlich nicht klüger, aber doch, wie es heißt, halbwegs menschlich, was zweifellos noch fraglich ist. Plötzlich stirbt P. unerwartet. Es ist natürlich kein Testament da; die Vermögensverhältnisse sind in einem chaotischen Zustand. […] Der Pflegling versuchte trotz seiner Idiotie seinen Professor zu betrügen, und es gelang ihm, wie es heißt, sich zwei Jahre lang umsonst behandeln zu lassen, da er den Tod seines Wohltäters vor ihm geheim hielt. Der Professor war jedoch selbst ein großer Scharlatan. Das lange Ausbleiben der Geldsendungen im Verein mit dem Appetit des fünfundzwanzigjährigen Pflegekindes erschreckte ihn endlich, und er expedierte ihn, nachdem er ihm seine Gamaschen und einen abgetragenen Mantel geschenkt hatte, aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Russland, um ihn in der Schweiz loszuwerden. Das Glück schien sich nun von seinem Helden abgewendet zu haben. Es kam aber anders. Fortuna, die ganze Gouvernements ruhig den Hungertod sterben lässt, schüttete all ihre Gaben auf einmal über den Aristokratenspross aus. […] Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz nach Petersburg kam, starb ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich dem Kaufmannsstande angehörte) – und hinterließ einige Millionen in bar als unanfechtbare Erbschaft (das wäre auch uns ganz willkommen, nicht wahr, lieber Leser?) unserem Baron, der seine Idiotie in der Schweiz kurieren sollte! Jetzt ging aber eine große Verwandlung vor sich. Um unseren Baron in Gamaschen, der zuerst einer bekannten ausgehaltenen Schönheit den Hof

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