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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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machte, versammelte sich plötzlich ein ganzer Haufen von Bekannten und Freunden, es fanden sich sogar Verwandte und vor allem ein Rudel vornehmer Mädchen, die sich nach einer legitimen Ehe sehnten; was konnte es auch Verlockenderes geben: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot – alles auf einmal, so ein Mann ist ja nicht einmal mit der Laterne zu finden und auch nicht auf Bestellung zu haben!« [60]  
    Dostojewskij bringt es tatsächlich fertig, auch solch gezielte Infamie mit einer geradezu magischen Suggestionskraft zu versehen. Radomskij, dessen Analyse soeben ausführlich zitiert wurde, wollte dem Fürsten helfen. Hier aber soll der Fürst vernichtet werden. Seine Lauterkeit erscheint plötzlich als Verstellung, hinter seinen Handlungen scheint ein ausgekochter Betrüger zu stecken, der sich hinter der Idiotie verbirgt, um ein lustiges Leben inmitten heiratswilliger junger Damen zu führen.
    Es liegt hier von der Intention derer, die den Zeitungsartikel ausgeheckt haben, eine Sonderform der Verkennung vor: die absichtliche Verkennung, was ja, recht besehen, ein Widerspruch in sich selbst ist, denn die Grundform der Verkennung setzt Unabsichtlichkeit voraus. Die Absichtlichkeit löst jedoch hier, bei näherem Hinsehen, die Suggestionskraft der unterstellten Sachverhalte gar nicht auf, so dass der Fall eintritt, dass die Verleumdung ihren eigenen Konstruktionen plötzlich oder allmählich Glauben schenkt – zumindest für die Dauer der Beschwörung. Ich möchte deshalb von einer suggerierten Verkennung sprechen.
    Wie reagiert der Fürst Myschkin auf solche Exegese seiner Handlungen? Denn er selber ist ja mit dabei, als der Zeitungsartikel, der ihn zum Schelmen macht, von Kolja Iwolgin »ganz laut, damit alle es hören können«, verlesen wird. Auch hier verschlägt das Gehörte dem Fürsten die Sprache. Es heißt: »Mit dem Fürsten ging das vor, was in solchen Fällen oft mit allzu schüchternen Menschen zu geschehen pflegt: Er schämte sich dessen, was ein anderer begangen hatte, dermaßen, schämte sich so sehr für seine Gäste, dass er im ersten Moment nicht einmal wagte, sie anzublicken.« [61]  
    Als er schließlich zu sprechen beginnt, nachdem erst einmal andere gesprochen haben, will er »über das soeben Gehörte nichts sagen«, nur, dass alles unwahr sei. »Meine Herrschaften, meine Herrschaften, erlauben Sie schließlich, meine Herrschaften, etwas zu sagen.« So beginnt der Fürst zu reden. Fazit: Auf diese beiden soeben vorgeführten Verkennungen reagiert der Fürst Myschkin mit sichtlicher Sprachnot. Er kann die Verfehlungen der anderen nicht ertragen und reagiert darauf mit äußerster Verlegenheit, die sich in der Unfähigkeit, sich widerlegend zu äußern, kundgibt.
    Epilepsie
    Betrachten wir nun vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die beiden epileptischen Anfälle des Fürsten Myschkin, die uns Dostojewskij gleichsam mit offener Blende schildert. Als These sei vorausgeschickt: Dostojewskij gestaltet die epileptischen Anfälle des Fürsten als nonverbale Reaktion auf unerträgliche Wirklichkeit.
    Solange die Wirklichkeit noch irgendwie erträglich ist, reagiert Myschkin, so gut es geht, verbal. Allerdings hatten die beiden soeben angeführten Beispiele anzüglicher Analyse gezeigt, dass er, sobald ihm Unrecht zugemutet wird, in Sprachnot gerät. Analysiert man seine Reaktionen auf die ihm ja unmittelbar begegnenden Verkennungen seiner Person, so ist festzustellen, dass er seiner Umwelt stets Wohlwollen, Menschenliebe, d.h. Sittlichkeit, unterstellt – und das auch wider anderen Anschein, aber nicht wider besseres Wissen! Fürst Myschkin weiß sehr wohl, was sich »tatsächlich« abspielt: er sieht, so darf man sagen, immer alles. Er will jedoch von negativer Wahrnehmung keinen Gebrauch machen. Er enthält sich des Urteils, wenn das, was ihm widerfährt, ein negatives Urteil über seine Mitmenschen nötig machen würde.
    Seine plötzliche Sprachnot angesichts dessen, was ihm zugemutet wird, ist nicht Folge einer Trübung des Wirklichkeitssinn, sondern Folge höchster geistiger Klarsicht, vor der er selber jedoch zurückschreckt, denn wenn er seiner geistigen Klarsicht angesichts des Wirklichen folgen würde, müsste er sich zur Gegenwehr, zur Aggression entschließen. Das aber kann er nicht, weil er zur verwerflichen Maxime unfähig ist. Seine Sprachnot in der Konfrontation mit dem Unzumutbaren entspringt nicht der Unfähigkeit zur Analyse dessen, was ist, sondern dem Unwillen

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