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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Dostojewskij in seine Darstellungsweise positiv eingebracht. Es ist sein Prinzip, mit Verkennungen zu arbeiten. In seinen Romanen wird der Leser immer wieder gezwungen, längst Verstandenes, längst Abgehaktes plötzlich unter einem völlig neuen Gesichtspunkt zu rekapitulieren. Sein Erzählverfahren besteht, wie ich sagen möchte, darin, eine »Wirklichkeit auf Widerruf« herzustellen, in der wir uns gleichsam divinatorisch, d.h. seherisch, zurechtzufinden haben. Hierzu notiert Dostojewskij selber 1876: »In Wahrheit ist die Wirklichkeit tiefer als jede menschliche Vorstellung, als jede Phantasie und, trotz der sichtbaren Einfachheit der Erscheinungen, ein schreckliches Rätsel. Das liegt nicht nur daran, dass in der Wirklichkeit nichts abgeschlossen ist, sondern auch daran, dass sich niemals die Anfänge ermitteln lassen – alles fließt und alles ist, doch nichts lässt sich fassen. Und was du fasst, was du in Gedanken fixierst – das wird sofort zur Lüge. Der ausgesprochene Gedanke ist Lüge .« [53]  
    Wieder beschließt Dostojewskij seine Reflexionen mit der berühmten Gedichtzeile Fjodor Tjutschews – in diesem Fall handelt es sich um einen Entwurf zu einem Artikel in seiner Zeitschrift Tagebuch eines Schriftstellers.
    Es ist nur eine Konsequenz dieser Einwände gegen die Sprache bezüglich ihrer Kompetenz angesichts der Wirklichkeit, in der »alles fließt« und keinen Anfang und kein Ende hat, dass innerhalb der dichterischen Wirklichkeit Dostojewskijs das Schweigen eine Schlüsselrolle spielt. Dies hat Malcolm Jones in einem Vortrag über das Schweigen in den Brüdern Karamasow (1997) erläutert. [54]   Das Schweigen im Gespräch kann hier und jetzt mehr sagen, als alles Reden jemals sagen kann. In der berühmten Legende vom Großinquisitor besiegt Christus, wie uns Dostojewskij vor Augen führt, den pausenlos redenden Großinquisitor durch Schweigen.
    Auch die letzte Szenenfolge des Romans Der Idiot mündet ins Schweigen. Und das in mehreren Schüben. Am Ende steht Myschkins geistige Umnachtung, die totale Kommunikationslosigkeit, in die er versinkt, weil er die Ermordung Nastasja Filippownas durch Rogoschin nicht verarbeiten kann. Die am Morgen nach der Nacht, die er mit Rogoschin neben der Leiche Nastasjas verbracht hat, ins Zimmer tretenden und ihn umringenden Menschen vermag er nicht mehr zu erkennen. Der Erzähler vermerkt: »Und wenn jetzt Schneider selbst aus der Schweiz erschienen wäre, um seinen ehemaligen Schüler und Patienten zu sehen, so hätte auch er, eingedenk des Zustandes, in dem sich der Fürst während des ersten Jahres seiner Behandlung in der Schweiz mitunter befunden hatte, nur abgewinkt und wie damals gesagt: ›Ein Idiot.‹« [55]  
    Mit diesem Satz endet der letzte, vierte Teil des Romans. Es folgt der lapidare Epilog. Zuvor aber hat Dostojewskij ein sonderbares Detail eingebracht. Eine Fliege, die sich über dem Leichnam Nastasjas, die am Morgen zuvor, um 4 Uhr, von Rogoschin ermordet worden ist, plötzlich erhebt, zieht die Aufmerksamkeit Myschkins und des Lesers auf sich: Wörtlich heißt es, als Myschkin, von Rogoschin ins Mordgemach geführt, die wie eine Schlafende unter einem Wachstuch im Bett liegende Nastasja betrachtet, wobei ihm das Herz so stark schlägt, dass es im Zimmer, wie es schien, zu hören war – in der »Totenstille des Zimmers« zu hören war: »Plötzlich begann eine Fliege, die erwacht war, zu summen, flog über das Bett und verstummte am Kopfende. Der Fürst zuckte zusammen.« [56]  
    Über diese Fliege, die nur für die Dauer eines einzigen Satzes existiert, hat Allen Tate, der amerikanische Lyriker und prominente Vertreter des »New Criticism«, einen vielbeachteten Vortrag gehalten – 1943 an der Princeton University: The Hovering Fly: A Causerie on the Imagination and the Actual World. Es ist typisch für den Lyriker Tate, am Mikrodetail der Fliege, die aus dem Nirgendwo auftaucht und sofort wieder ins Nichts verschwindet, eine universale Bedeutung abzulesen, so wie es für Tate, den Theoretiker des »New Criticism«, typisch ist, diese Bedeutung ausführlich und kohärent zu erläutern. Das Summen dieser Fliege steige, so sagt er, »wie ein Hurrikan in dem schweigenden Raum auf«, bis sich dieser Raum mit »hörbarem Schweigen« fülle. Wörtlich dann: »Mit ihrem düsteren und hörbaren Schweigen steht die Fliege für die Abwesenheit des Lebens, für den Leichnam der jungen Frau auf dem Bett. Wir haben es hier mit einer jener

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