Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Bildumkehrungen zu tun, zu denen nur ein großes literarisches Talent fähig ist: Leben steht für Tod.« [57]
So fasst also jener einzigartige Satz, der uns das plötzliche Erwachen, Summen und Verstummen einer Fliege berichtet, die Sinnbewegung des gesamten Romans zusammen: den Absturz in die Totenstille.
Man beachte, dass der Roman mit dem Gerede in einem Eisenbahnabteil beginnt: dem Gerede, dessen ungebetener Regisseur Lebedjew ist, der sich in das sich zögernd entspinnende Gespräch zwischen Myschkin und Rogoschin regelrecht hineindrängelt. Aus dem Gerede tritt die weibliche Hauptperson des Romans, Nastasja Filippowna, in den Horizont Myschkins. So sind gleich zu Beginn des Romans die drei Hauptpersonen, mit Myschkin an der Spitze, auf engem Raum, hier einem Eisenbahnabteil, beisammen: Myschkin, Rogoschin und, »vorgestellt«, Nastasja. Auch die letzte Szene des Romans spielt in einem engen Raum, dem Schlafzimmer Rogoschins: auch hier sind die drei Hauptpersonen beisammen: mit Nastasja als Leiche. Das Gerede aber fehlt jetzt: es bricht herein mit den Neugierigen, die nicht mehr geschildert werden, denn das, was erzählt werden sollte, ist erzählt und wird bezeichnenderweise abgeschlossen mit der Formel der Verkennung: »Ein Idiot.«
Das Rätsel Myschkin
Zwischen den beiden engen, geschlossenen Räumen, die Anfang und Ende des Romans bestimmen, vollzieht sich das Schicksal des Fürsten Myschkin in der Begegnung mit Rogoschin und Nastasja Filippowna. Trotz der Vielzahl seiner Personen ist Dostojewskijs Roman in seiner Hauptsache ein Drei-Personen-Stück: mit Fürst Myschkin an der Spitze. Und Dostojewskij lässt klarwerden, dass diese drei Personen einander gerade nicht verkennen. Daraus aber erwächst die Katastrophe.
Dostojewskijs Roman Der Idiot als Phänomenologie der Verkennung: Was bezweckt Dostojewskij mit einem Idioten als Titelhelden? Im Text des Romans heißt es wörtlich über die Titelfigur: »ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot – alles auf einmal, solch ein Mann ist ja nicht einmal mit der Laterne zu finden und auch nicht auf Bestellung zu haben.« Solches Urteil ist, wie wir als Leser wissen, eine diffamierende Kontamination. Doch auch Alexandra Jepantschina, eine der drei Schwestern, die zu Beginn des Romans am Fürsten die Narrenprobe durchführen, meint: »Dieser Fürst ist vielleicht ein großer Schwindler und gar kein Idiot.« Und der Fürst selber sagt über sich: »Jetzt gehe ich zu den Menschen […]. Der Verkehr mit den Menschen wird mir vielleicht langweilig und schwer sein. Vorläufig bin ich willens, gegen alle höflich und aufrichtig zu sein, mehr kann doch niemand von mir verlangen. […] Alle halten mich ja für einen Idioten, und ich war wirklich einmal so krank, dass ich einem Idioten glich, aber wie kann ich denn jetzt noch ein Idiot sein, wenn ich selbst einsehe, dass man mich für einen Idioten hält.« [58]
Wie also haben wir, die Leser, den Fürsten Myschkin einzuschätzen? Dostojewskij geht so vor, dass er unser Vertrauen in die sittliche Integrität Myschkins immer wieder bestärkt, gleichzeitig aber immer neue Freiräume für die Verkennung Myschkins bereitstellt. Auch wir, die Leser, werden von Dostojewskij mit der Möglichkeit konfrontiert, Myschkin falsch zu deuten und die Frage zu stellen, ob er nicht in Wahrheit ein Filou ist und seine Naivität nur spielt.
Es ist leicht einzusehen, dass deshalb mit dem Fürsten Myschkin, den wir ja nur von außen geschildert sehen, alles nur Mögliche passiert sein könnte, ohne dass es uns gerade jetzt offenbar zu werden hätte. Durch solch geradezu malizöser Erzähltechnik liefert Dostojewskij uns, seine Leser, ganz dem aus, was uns hier und jetzt gezeigt wird. Wir beobachten nicht nur die handelnden Personen im Hinblick darauf, ob sie den Fürsten Myschkin verkennen, sondern sehen plötzlich, dass wir selber in der Möglichkeit stehen, den Fürsten Myschkin zu verkennen. Dostojewskij baut in seinen Text hermeneutische Fallen ein, um den Leser dazu zu bringen, das Gemeinte selber zu finden. Das Gemeinte tritt niemals explizit verbalisiert auf. Wir haben es in einem übertragenen Sinne »abzulesen«. Und das erfordert poetologische Besinnung.
Zwei Verkennungen
Grundsätzlich ist festzuhalten: Niemand kann einen Roman Dostojewskijs korrekt nacherzählen, ohne immer wieder den Text zu Hilfe zu nehmen: auch wenn er den betreffenden Roman bereits mehrmals gelesen hat. Dostojewskij selbst weiß das natürlich.
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