Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
zur Aggression. Deswegen macht er in entscheidenden Augenblicken den Eindruck der Verstörung. In Wahrheit arbeitet sein Wirklichkeitssinn störungsfrei. Dies aber teilt uns Dostojewskij nicht explizit mit, weil sein Erzähler nur »Äußerungen« protokolliert, nur den »ausgesprochenen« Gedanken. Dass solch ein Erzählverfahren in der Sprachphilosophie Dostojewskijs verwurzelt ist, habe ich zu erläutern versucht.
Die epileptischen Anfälle des Fürsten Myschkin sind nicht der Einbruch eines autonomen Krankheitsgeschehens in die ansonsten »normal« funktionierende Lebenswelt: Vielmehr ist der Anfall, so veranschaulicht Dostojewskij, die Reaktion auf die in einem objektiven Sinne unerträglich gewordene Wirklichkeit. Und das Unerträgliche ist innerhalb der dichterischen Welt Dostojewskijs das Unsittliche, das Böse als das vom Menschen freiheitlich gewählte Unsittliche. Die Welt Dostojewskijs kennt keine Naturkatastrophen, kennt nicht das Erdbeben in Chili , sondern nur den »Wahnsinn des Eigendünkels« (mit Hegel gesprochen).
Und so bricht über den Fürsten Myschkin (es geht jetzt um jenen epileptischen Anfall, der uns im fünften Kapitel des zweiten Teils geschildert wird) nicht ein epileptischer Anfall herein, sondern die Wirklichkeit mit Rogoschin als potentiellem Mörder. Myschkin sieht sich, als er in Petersburg auf dem Bahnhof eintrifft, von zwei Augen verfolgt, den Augen seines eigenen potentiellen Mörders – und solche Präsenz bildet er sich nicht ein: sie ist wahr. Myschkin aber will eine solche Wirklichkeit nicht wahrhaben . Seine innere Klarsicht zwingt ihn aber dazu. Die Folge ist, er hat Schuldgefühle – und zwar deshalb, weil er dem anderen, d.h. Rogoschin, ein Schuldigwerden unterstellen muss. Er unterstellt aber Rogoschin explizit nur, dass dieser Nastasja umbringen werde. Sofort aber verspürt er den Mahnruf seines Gewissens: »Ist es nicht ein Verbrechen, eine Niedertracht meinerseits, so zynisch-offen eine solche Voraussetzung zu machen!« [62]
Das heißt: Die Aura dieses epileptischen Anfalls erwächst aus dem Zwang Myschkins, die Schuld des anderen anzuerkennen: einem Mitmenschen die schwere Tat des Mordes als Absicht zu unterstellen. Und in dem Moment, als sich Rogoschin dann, wenig später, Myschkin in eindeutiger Mordabsicht auf dämmriger Treppe nähert, kommt es zum Anfall. Man beachte, dass Myschkin, bevor er im Anfallsgeschehen versinkt, angesichts Parfjon Rogoschins, der mit gezückter Mordwaffe, einem Messer, vor ihm erscheint, das von Dostojewskij mit aller Sorgfalt leitmotivisch eingeführt wurde, ausruft: »Parfjon, ich glaube es nicht!« [63] Mit solchem Ausruf soll die Wirklichkeit des Bösen geleugnet werden. Die innere Klarsicht Myschkins aber musste diese Wirklichkeit anerkennen. Deshalb der Anfall, der nach einer halben Sekunde inneren Lichtes, das Myschkins Seele erfüllt, in einen furchtbaren Schrei einmündet. Dann erlischt sein Bewusstsein, und es tritt völliges Dunkel ein. Rogoschin wird von Entsetzen gepackt und sucht das Weite.
Dieser Schrei, »in dem plötzlich alles Menschliche gleichsam untergeht«, darf nicht als factum brutum eines epileptischen Anfalls isoliert betrachtet werden. Dieser Schrei ist als die adäquate nonverbale Interpretation der Welt anzusehen, in der Myschkin leben muss.
Hubertus Tellenbach hat in seiner Analyse der Epilepsie des Fürsten Myschkin darauf aufmerksam gemacht, dass dessen Anfälle immer dann auftreten, wenn er die Wirklichkeit nicht mehr »mediieren« kann. [64]
Auch der zweite Anfall Myschkins ist unter diesem Gesichtspunkt zu deuten. Man beachte die poetologische Systematik Dostojewskijs. Der erste Anfall findet innerhalb der Privatsphäre des Fürsten statt und betrifft die Rivalität zwischen Rogoschin und Myschkin gegenüber Nastasja Filippowna. Der zweite Anfall hingegen, der uns im siebten Kapitel des vierten Teils geschildert wird, formuliert das Verhältnis des Fürsten Myschkin zum Gemeinwesen Russland: in Konfrontation auch mit Vertretern des russischen Hochadels, die taub sind gegen die von ihm in wachsender Verstörung entwickelten kulturpolitischen Analysen. Myschkin will den immanenten Hohn seiner Zuhörer nicht wahrhaben – und es kommt zum Anfall.
Wieder erwähnt der Erzähler den »wilden Schrei« des Fürsten Myschkin. Ich möchte betonen, dass die hier von Myschkin vertretenen Ansichten, die sich zentral gegen die römisch-katholische Kirche richten, Dostojewskijs eigene
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