Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Ansichten sind – ein Kunstgriff, der dem Auftritt des »Narren in Christo« (jurodivyj) in Puschkins Boris Godunow vergleichbar ist. Auch bei Puschkin spricht der Narr die Wahrheit aus.
Krankheit als Konflikt
So lässt sich sagen: Das Wegtreten des Fürsten Myschkin aus der Welt im epileptischen Anfall wird von Dostojewskij als die adäquate Reaktion eines durch und durch sittlichen Bewusstseins auf die mit innerer Klarsicht wahrgenommene unsittliche Wirklichkeit gestaltet. Der Gegentypus zu Myschkin ist Raskolnikow, die Hauptgestalt des vorhergehenden Romans Verbrechen und Strafe: Raskolnikow antwortet auf die unerträgliche Wirklichkeit mit Aggression und wird, aus sittlicher Empörung, zum Mörder. Dem Explodieren Raskolnikows in die Untat steht das Implodieren Myschkins in den epileptischen Anfall gegenüber.
Myschkin ist immer wieder und zu Recht mit Don Quijote und mit Christus verglichen worden. Man darf jedoch nicht vergessen, dass er sich in jeweils einem wesentlichen Punkt von diesen beiden Gestalten unterscheidet: Don Quijote verlässt niemals das Gehäuse seines Wahns – im Gegensatz zum Fürsten Myschkin, dessen Wahn, dass alle Menschen sich tief in ihrem Herzen dem Guten verpflichtet fühlen, von Dostojewskij demonstrativ torpediert wird. Und Christus unterscheidet sich vom Fürsten Myschkin dadurch, wie Frank F. Seeley (1982) schlagend in Erinnerung gebracht hat, dass er angesichts der Bosheit der Welt gerade nicht den Verstand verliert. [65]
Was aber die Verkennung als Verfahren der Charakterzeichnung anbelangt, so befindet sich Knut Hamsun mit seinem Roman Mysterien in engster Nachfolge zu Dostojewskijs Idiot. Die literarische Reihe der Protagonisten, die ihr Wesen darin haben, von der Umwelt verkannt zu werden, mit Christus und Don Quijote als den entscheidenden Hintergrundfiguren, findet also in Myschkin ein ganz besonderes Exemplum: ein Exemplum, das in der Epilepsie sein dominierendes Merkmal hat.
Mit den zwei ausführlich gestalteten epileptischen Anfällen des Fürsten führt Dostojewskij die Verkennung seiner Hauptgestalt auf den Gipfel: Myschkin wird vor unseren Augen zu einem Kranken. Wer wollte das leugnen? Und doch impliziert die Botschaft des Romans, dass das Anfallsleiden dieses Fürsten gerade kein Symptom der Krankheit ist, sondern ganz im Gegenteil als Symptom eines gesunden, nämlich zukunftsweisenden sittlichen Empfindens zu gelten hat, dem die herrschenden Maximen seiner Umwelt kein Lebensrecht zubilligen.
Selbst und Man-selbst
In (fast) allen Szenen ist Fürst Myschkin anwesend – und nicht nur das: er wird immer wieder ganz automatisch zum Mittelpunkt. Warum? Auf diese Frage muss zweifach geantwortet werden: einmal von innerfiktionalem Standpunkt und einmal von außerfiktionalem Standpunkt. Innerfiktional gesehen wird Myschkin zum Mittelpunkt seiner ihn jeweils umgebenden Mitmenschen, weil er durch seine distanzlose Lauterkeit auffällt. Er ist in jedem Augenblick in seiner Eigentlichkeit da. Er lebt ständig sein Selbst und nicht ein »Man-selbst«. Mit George Herbert Mead wäre zu sagen: in Myschkin ist das »I« stets stärker als das »me«, und deshalb fällt er in der Gesellschaft (society) auf, denn die Gesellschaft fordert immer nur das »me«. [66] Im Deutschen ist die Unterscheidung zwischen »I« und »me« nicht möglich. Ich verwende deshalb die Terminologie Martin Heideggers, der in Sein und Zeit zwischen dem »eigentlichen Selbst« und dem »Man-selbst« unterscheidet. Es heißt dort in § 64: »Es zeigte sich, zunächst und zumeist ist das Dasein nicht es selbst, sondern im ›Man-selbst‹ verloren. Dieses ist eine existenzielle Modifikation des eigentlichen Selbst.« Die Diktatur des »Man« stellt den Einzelnen in die »Botmäßigkeit der Anderen«. Im alltäglichen Miteinander gehört »man selbst« zu »den Anderen und verfestigt ihre Macht« ( Sein und Zeit , § 27). Fürst Myschkin, so ist nun festzustellen, provoziert in den anderen ihr eigentliches Selbst, dem sie selber gar nicht gewachsen sind, indem er sein eigentliches Selbst ständig lebt. Er wird auf diese Weise zu einem Ärgernis, das »man« abzutun versucht, abzutun dadurch, dass man ihn zum »Idioten« abstempelt. Fürst Myschkin lebt bezeichnenderweise in einer ständigen Todesbewusstheit, die in höchster Seinsbewusstheit gründet. Das »Man« aber, so vermerkt Heidegger, »läßt den Mut zur Angst vor dem Tode nicht aufkommen« ( Sein und Zeit , § 51).
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