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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Und deswegen baut er innerhalb seiner Romane Zusammenfassungen ein, die die Sachverhalte rückblickend vor Augen führen – dies allerdings so, dass der Leser zu erneuter Wachsamkeit gezwungen wird, nämlich gegenüber solchen Zusammenfassungen.
    Im vorliegenden Roman springen, unter dem Leitbegriff der Verkennung, zwei solcher Zusammenfassungen ins Auge: die Charakteristik, die Jewgenij Radomskij vom Fürsten Myschkin gibt, und der gegen Myschkin gerichtete diffamierende Zeitungsartikel, der darauf abzielt, ihn als einen durchtriebenen Schelm hinzustellen. Es geht nun zentral um die Reaktionen Myschkins auf diese beiden »Verkennungen«: denn aus diesen Reaktionen lässt sich erkennen, welche Funktion seine beiden epileptischen Anfälle Myschkin für Dostojewskijs Intentum , das Ziel seiner Darstellung, haben. Auf beide Anfälle ist sogleich noch mehr oder weniger ausführlich zu sprechen zu kommen.
    Mit der Zusammenfassung Jewgenij Radomskijs liefert uns Dostojewskij ein Meisterwerk aus präzisen, aber unzutreffenden Formulierungen (Teil IV, Kap. 9). Resümiert wird das Geschehen des ersten Teils: nämlich das Verhältnis des Fürsten zu Nastasja Filippowna – und dies »mit außerordentlicher psychologischer Feinheit«, wie uns der Erzähler versichert: Radomskij sagt (und bezieht sich zentral auf den Heiratsantrag, den Myschkin Nastasja gemacht hat): »Es hat bei Ihnen von Anfang an mit einer Lüge begonnen. Was aber mit einer Lüge beginnt, muss auch mit einer Lüge enden. Das ist ein Naturgesetz. Ich bin damit nicht einverstanden und bin sogar empört, wenn man Sie – nun ja, wie das so vorkommt – einen Idioten nennt. Für eine solche Bezeichnung sind Sie viel zu klug. Sie sind aber derartig sonderbar, dass Sie gewiss nicht so sind wie die übrigen Menschen, das werden Sie selbst zugeben. Ich bin mir darüber klargeworden, dass das Fundament all dessen, was vorgefallen ist, in Ihrer angeborenen Unerfahrenheit (beachten Sie Fürst, dieses Wort, ›angeborenen‹) zu suchen ist, in Ihrer außergewöhnlichen Einfältigkeit; des Weiteren in dem phänomenalen Mangel an Maßgefühl (was Sie selber des Öfteren zugegeben haben), und schließlich, in einer ungeheuren, alles überflutenden Menge rein verstandesmäßiger Konstruktionen, die Sie, in Ihrer außergewöhnlichen Aufrichtigkeit, bislang für echte, natürliche und unmittelbare Überzeugungen halten. Sie müssen zugeben, Fürst, dass sich in Ihre Beziehungen zu Nastasja Filippowna von Anfang an etwas Zeitbedingt-Demokratisches eingeschlichen hat (ich möchte mich der Kürze halber so ausdrücken), sozusagen der Zauber der ›Frauenfrage‹ (um mich noch kürzer zu fassen). Die sonderbare skandalöse Szene, die sich bei Nastasja Filippowna abspielte, als Rogoschin das Geld brachte, ist mir ganz genau bekannt. Wenn Sie wollen, werde ich Sie selber genau analysieren, Sie wie in einem Spiegel vorführen, so genau weiß ich, wie sich alles entwickelt hat und warum alles eine solche Wendung nehmen musste. Sie, ein Jüngling, haben sich in der Schweiz nach der Heimat gesehnt, strebten Russland zu wie einem unbekannten, aber gelobten Land. Sie haben viele Bücher über Russland gelesen, die vielleicht ausgezeichnet waren, für Sie aber schädlich; Sie erschienen gleich mit dem ersten Erwachen Ihres Tatendurstes, stürzten sich, sozusagen, in die Tätigkeit. Und noch am gleichen Tage erzählt man Ihnen die traurige und herzerschütternde Geschichte von der gekränkten Frau, erzählt sie Ihnen, das heißt, dem keuschen Ritter – und noch dazu über eine Frau! Noch am selben Tag sehen Sie diese Frau; Sie sind von ihrer Schönheit, einer phantastischen, dämonischen Schönheit bezaubert (ich bin durchaus auch der Meinung, dass sie eine schöne Frau ist). Fügen Sie Ihren Nervenzustand, Ihre Epilepsie hinzu, fügen Sie unser Petersburger nervenzersetzendes Tauwetter hinzu; fügen Sie diesen ganzen Tag in einer unbekannten und für Sie fast phantastischen Stadt hinzu, einen Tag der Begegnungen und Auftritte, einen Tag unerwarteter Bekanntschaften, einen Tag der unvorhersehbarsten Wirklichkeit, den Tag der drei schönen Mädchen der Jepantschins, unter ihnen Aglaja; fügen Sie die Müdigkeit hinzu, die Schwindelgefühle; fügen Sie den Salon Nastasja Filippownas hinzu und den Ton in diesem Salon, und … was konnten Sie in dieser Minute von sich erwarten, was denken Sie?« [59]  
    Das ist zweifellos das Musterbeispiel einer Verkennung. Ja, Dostojewskij

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