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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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    Damit ist die Grundlage für die suggestive Wirkung, die der Fürst Myschkin auf seine Umwelt ausübt, kenntlich gemacht worden. Die Frage, warum er ganz automatisch zum Mittelpunkt wird, wo auch immer er auftaucht, ist damit von innerfiktionalem Standpunkt beantwortet worden. Sie kann aber auch auf ganz andere Weise beantwortet werden: nämlich von außerfiktionalem Standpunkt, und das heißt »poetologisch«.
    Von außerfiktionalem Standpunkt lautet die Antwort auf die Frage, warum der Fürst ganz automatisch zum Mittelpunkt wird, wo auch immer er auftaucht: Weil Dostojewskij die Umwelt Myschkins so anlegt, dass dieser sich in der Begegnung mit ihr in seinem Wesen profiliert. Wenn wir diese Antwort durchdenken, sehen wir Dostojewskijs künstlerische Verfahrensweise. Der Idiot liefert uns eine Phänomenologie der Verkennung. Die Zeichnung des Fürsten Myschkin hat ihr Grundprinzip darin, ihn allen nur denkbaren Möglichkeiten, verkannt zu werden, auszusetzen. Der Titel des Romans muss als die Formel der Verkennung verstanden werden: Der Idiot . Sein literarisches Profil erhält der Fürst Myschkin aus den von Dostojewskij systematisch ausgestalteten Möglichkeiten, verkannt zu werden.
    Zwei Fremde im Zug
    Betrachten wir die Eingangsszene. Myschkin und Rogoschin sitzen sich, ohne sich zu kennen, gegen neun Uhr morgens im Zug gegenüber – Fensterplatz – und kommen, bevor sie Petersburg erreichen, miteinander ins Gespräch. Zwei Fremde im Zug, Strangers on a Train , könnte man mit Patricia Highsmith sagen. Die sich entspinnende Unterhaltung zwischen den zwei jungen Männern (sie sind beide »um die sechsundzwanzig Jahre« alt) wird von einem neugierigen Zuhörer mitverfolgt: dem vierzigjährigen Beamten Lebedjew, der unverzüglich seine geschwätzigen Bemerkungen beisteuert. Durch Lebedjew wird das Medium des Geredes hergestellt. Lebedjew ist der Repräsentant des Heideggerschen »Man«. Er bedient sozusagen Myschkin und Rogoschin mit seiner Neugier, ohne dass sie es wollen. Über Lebedjew vermerkt der Erzähler: »Solche Herren Alleswisser trifft man zuweilen, sogar ziemlich oft, in einer gewissen Gesellschaftsschicht. Sie wissen alles, all ihr ruheloses Forschen und ihre Fähigkeiten arbeiten unaufhaltsam in eine einzige Richtung, natürlich unter Ausschluß aller lebenswichtigen Interessen und Meinungen, wie es ein Denker unserer Zeit ausdrücken würde. Daß sie ›alles wissen‹, gilt übrigens nur für ein ziemlich begrenztes Gebiet: wo der und der seinen Dienst tut, wer mit wem bekannt ist, was für ein Vermögen wer hat, wo er Gouverneur gewesen ist, mit wem er verheiratet ist, welche Mitgift er bekommen hat, wer sein Vetter ersten Grades ist, wer sein Vetter zweiten Grades und so weiter und so weiter, alles in dieser Art.« [68]   Zu Neugier und Gerede, deren exemplarischer Vertreter Lebedjew ist, gehört wesensmäßig, dass »man« alles versteht, ohne wirklich Bescheid zu wissen. Bei nichts hält Lebedjew sich wirklich auf, er ist immer schon beim Nächsten. Im Medium seines Geredes erscheint auch Nastasja Filippowna. Lebedjew ist es, der ihren vollen Namen zum ersten Mal nennt: Nastasja Filippowna Baraschkowa. So taucht also die weibliche Hauptgestalt des Romans aus dem Nebel des Geredes vor uns auf. »Lebedjew weiß alles«, sagt er von sich selbst. Er fängt alles auf, was ihm aus dem Gespräch zwischen Myschkin und Rogoschin zufällt, und verarbeitet es ganz auf seine Weise.
    Die Eingangsszene im Eisenbahnabteil mit Myschkin und Rogoschin im Vordergrund, Lebedjew im Hintergrund und Nastasja Filippowna als zentralem Gegenstand der Neugier enthält bereits in nuce alles, was noch kommt. Was im weiteren Verlauf des Romans folgt, ist nichts anderes als die Entwicklung dessen, was hier noch unentfaltet, aber sich bereits entfaltend vorliegt. Sogar das sibirische Zuchthaus, das im Epilog des Romans auf Rogoschin wartet, ist in der Eingangsszene bereits als eine beschworene Realität leitmotivisch präsent, wenn auch innerfiktional nicht auf Rogoschin und Nastasja bezogen.
    In Myschkin und Rogoschin stehen sich zwei Möglichkeiten eigentlichen Daseins antithetisch gegenüber: grenzenlose Nächstenliebe und grenzenlose Leidenschaft. Die Nächstenliebe gründet im reinen »Intellekt«, die Leidenschaft im blinden »Willen«, wobei diese beiden Begriffe im Sinne Schopenhauers verstanden werden müssen – von Dostojewskij veranschaulicht als Impotenz (Myschkin) und Vitalität (Rogoschin), als

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