Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
schließlich (4) durch den Heiratsantrag, den er Nastasja Filippowna innerhalb der großen Skandalszene macht, mit der der erste Teil endet (Kap. 15).
Man beachte den systematischen Zusammenhang der so gesetzten Akzente. Durch die Erzählung von der Hinrichtung in Lyon werden sowohl Myschkins Todesbewusstheit als auch seine Seinsbewusstheit deutlich, während die Erzählung von der armen Marie und ihrem Schicksal ihre Pointe in der Apologie des Kindlichen hat, in der Apologie der Welt der Kinder. Myschkin bewahrt hier das Kollektiv der Kinder vor der Korruption durch die Institutionen Schule und Kirche. Beide Erzählungen können als Myschkins Bekenntnis zum »lebendigen Leben« gesehen werden und sind antithetisch aufeinander bezogen: dem Tod des Hingerichteten steht die lebendige Zukunft der Kinder gegenüber.
Die beiden weiteren Akzente, durch die Myschkin gekennzeichnet wird, betreffen sein Handeln in der Gegenwart, genauer gesagt: sein Nichthandeln und sein Handeln. Er erhält eine Ohrfeige und wehrt sich nicht, und er macht Nastasja Filippowna einen Heiratsantrag, um sie aus ihrer Zwangslage zu erlösen. Myschkins Todesbewusstheit und seine Seinsbewusstheit bedingen einander und bilden das Fundament für sein altruistisches Nichthandeln und sein altruistisches Handeln. Nebenbei sei vermerkt, dass Myschkins Erzählung von der leidenden Marie seine Beziehung zu Nastasja Filippowna bereits in nuce vorwegnimmt und kennzeichnet.
Die Troika der Misfits
Myschkin, Rogoschin und Nastaja Filippowna – das Verhältnis dieser drei Hauptpersonen zueinander, mit Myschkin bedeutungsmäßig an der Spitze, wird im ersten Teil des Romans dreimal gestaltet. Dreimal treten Myschkin und Rogoschin, ausgerichtet auf Nastasja, vor unseren Blick: immer unter den Augen einer neugierigen Öffentlichkeit
Die Eingangsszene im Eisenbahnabteil lässt die Grundkonstellation der drei Hauptpersonen mit einem Schlag sichtbar werden. Nastasja ist zwar hier nicht physisch anwesend, dafür aber durch das, was von ihr gesagt wird, atmosphärisch vollkommen präsent. Rogoschin bekennt sein leidenschaftliches Engagement, Myschkin ist der mitfühlende Zuhörer, und Lebedjew demonstriert nichts anderes als die schamlose Neugier der omnipräsenten, ungebetenen Öffentlichkeit.
Ein zweites Mal tritt uns diese Konstellation der Hauptgestalten im zehnten Kapitel entgegen. Schauplatz ist jetzt die Wohnung der Iwolgins. Myschkin ist bereits anwesend, als Nastasja (zum ersten Mal) auftritt, wenig später kommt Rogoschin mit seiner Horde herein. So wird das Verhältnis der drei Hauptgestalten zueinander um eine weitere Drehung der Schraube vorangetrieben. Natürlich fehlt auch Lebedjew nicht.
Ein drittes Mal schließlich führt uns Dostojewskij die Troika seiner Misfits in den zwei letzten Kapiteln des ersten Teils seines Romans vor, den Kapiteln fünfzehn und sechzehn. Wiederum ist Lebedjew (an der Seite Rogoschins) mit dabei. Schauplatz ist die Wohnung Nastasjas. Anlass dafür, dass sich hier und jetzt alle wesentlichen Personen im Intrigenspiel um die von Afanasij Totzkij betriebene Verheiratung Nastasjas einfinden, ist Nastasjas Geburtstag, der gleichzeitig ihr Namenstag ist. »Man« ist gekommen, und wir haben Ferdyschtschenko mit seinem Gesellschaftsspiel der öffentlichen Selbstbezichtigung als den Regisseur des Geredes und der Neugier anzusehen. Mit diesem Gesellschaftsspiel führt uns Dostojewskij das »Man« exemplarisch in der Aktion vor, denn das »Selbst« derer, die hier bekennen, tritt überhaupt nicht in Erscheinung, sondern immer nur das »Man-selbst«. Das Gerede des Man lässt immer nur Wortmasken zu. Plötzlich aber erscheint Rogoschin mit seiner Horde und hunderttausend Rubeln. Das Gesellschaftsspiel ist zu Ende: Myschkin macht Nastasja einen Heiratsantrag, doch sie verschwindet mit Rogoschin und seiner pittoresken Korona nach Katharinenhof – und Myschkin fährt ihnen nach.
Der Aufbau des ersten Teils hat sein hauptsächliches Merkmal darin, die »kleine« erste Szene zur »großen« letzten Szene zu steigern – mit einer Generalprobe gleichsam im zehnten Kapitel. Immer mehr Menschen befinden sich am Schauplatz, der jeweils ein Innenraum ist. Das zentrale Geschehen um Myschkin, Rogoschin und Nastasja vollzieht sich unter den Augen der Öffentlichkeit. In der Hauptsache hat Dostojewskij den ersten Teil dieses Romans darauf angelegt, der großen letzten Szene, die mit dem dreizehnten Kapitel beginnt, die Verständlichkeit zu
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