Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Filippowna einen Heiratsantrag macht und unter dem Druck dieses Umstands ihr und allen anderen, die mit dabei sind, eröffnet, dass er ein beträchtliches Erbe zu erwarten habe, was ihm Rechtsanwalt Salaskin aus Moskau brieflich versichert habe. Den Brief hat Myschkin bei sich und weist ihn vor.
Wie aber sieht die außerfiktionale Begründung für diesen innerfiktionalen Sachverhalt aus? Myschkin hatte aus dem Ausland anzureisen, weil er in Russland nach längerer Abwesenheit wie ein Fremder erscheinen sollte, ein Fremder, über den keinerlei Informationen vorliegen, so dass er für Mutmaßungen und Unterstellungen aller Art beliebigen Anlass gibt. Dostojewskij will zeigen, wie Myschkin als unbeschriebenes Blatt ins Gerede kommt.
Höchstes Ziel solcher Konstruktion ist es, ein Gemeinwesen, das sich dem materiellen Egoismus verschrieben hat, mit einem sittlich absolut positiven Menschen zu konfrontieren. Der Fremde, über den man nichts weiß, wird in eine Welt hineingestellt, in der jeder über jeden alles weiß.
Anders ausgedrückt: Dostojewskij lässt uns an einem Experiment teilnehmen. Der innerfiktionale Sachverhalt mit seinen sämtlichen Details schafft die Laboratoriumsbedingungen dafür, die Reaktion des »Man« auf seinen Todfeind, das »Selbst«, exemplarisch vorzuführen. Dieses Selbst hat hier sein Wesen in grenzenloser Nächstenliebe, die sich in vollkommen naiver Lauterkeit äußert. Die demonstrierte Reaktion des »Man« auf das »Selbst« ist Abwehr. Im Einzelfall kann die Abwehr im Voraus festliegen als unbeirrtes Vorurteil, oder sie setzt nach der Betroffenheit vom Anspruch des Selbst ein als nachträgliche Zurückweisung dieses Anspruchs unter der Herrschaft des Man, das immer schon weiß, was von jemandem zu halten ist. Das Wortfeld »Idiot« wird hier zum Lexikon der Abwehrmechanismen.
Dostojewskij geht so vor, dass er unser Vertrauen in die sittliche Integrität Myschkins immer wieder bestärkt, gleichzeitig aber immer neue Freiräume für die Verkennung Myschkins bereitstellt. Auch wir, die Leser, werden von Dostojewskij mit der Möglichkeit konfrontiert, Myschkin falsch zu deuten und die Frage zu stellen, ob er nicht in Wahrheit ein Filou ist und seine Naivität nur spielt. Diese Frage steht beispielsweise explizit während der Begegnung Myschkins mit den drei Töchtern Jepantschin im Raume, die mit ihm eine regelrechte »Narrenprobe« durchführen. Und als Myschkin schließlich den Brief des Rechtsanwalts Salaskin hervorzaubert, der ihn zum Millionär designiert, sehen wir uns mit allem Nachdruck gezwungen, das Bild, das wir uns von Myschkin gemacht haben, kritisch zu überprüfen. Die Art, wie Dostojewskij seinen imaginären Erzähler einsetzt, schafft die Voraussetzung dafür, dass jederzeit Informationen auftauchen können, die dazu zwingen, einen bereits fixierten Sachverhalt in einem völlig neuen Licht zu rekapitulieren.
Es lässt sich nun sagen, worin die »Spannung« dieses Romans ihren »Grund« hat: in der ständigen Möglichkeit, dass sich Myschkin von seiner Umwelt dazu provozieren lässt, eine »Rolle« zu übernehmen, und in der ständigen Möglichkeit seiner Umwelt, in der Begegnung mit Myschkin von der Herrschaft des »Man« befreit zu werden. Alle äußere Spannung, die Neugier des Lesers auf das, was als Nächstes geschieht, gründet in dieser inneren Spannung, die sich aus der leitenden Problemstellung ergibt.
Die einzelnen Gestalten des Romans lassen eine jeweils verschiedene Nähe oder Ferne zur gesellschaftlichen Wirklichkeit des »Man« erkennen. Die drei Hauptpersonen, Myschkin, Rogoschin und Nastasja, werden von Dostojewskij als gesellschaftliche Außenseiter gekennzeichnet, als »Misfits«, so könnte man sagen. Von ihnen steht Myschkin der Gesellschaft am fernsten, was in seinem schließlichen Wahnsinn zum Ausdruck kommt, der ja nur die Antwort auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit ist, in der die Selbstlosigkeit unverstanden bleibt und keine Lebenschance hat.
Profilierung Myschkins
Im ersten Teil des Romans wird Myschkin durch vier Akzente profiliert, durch vier Höhepunkte, die er herbeiführt: (1) durch seine Erzählung von einer Hinrichtung mit der Guillotine in Lyon, wo er als Zuschauer zugegen war (Kap. 2 und 5), (2) durch seine Erzählung von der kranken und geächteten Marie, die er in der Schweiz im Kanton Wallis kennengelernt hat (Kap. 6), (3) durch die Nichtreaktion auf die Ohrfeige, die er öffentlich von Ganja Iwolgin erhält (Kap. 10), und
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