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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Lichtgestalt und Schwärze. Mit einem Wort: Myschkin und Rogoschin verkörpern die zwei Seiten des Menschen, seine helle und seine dunkle Seite. Und die Krankheit des Fürsten Myschkin, seine Epilepsie, erscheint wie eine Rache des »Willens« an seiner Missachtung durch den »Intellekt«.
    Wenn sich auch sagen lässt, dass Myschkin und Rogoschin die zwei Seiten des Menschen veranschaulichen, seine helle und seine dunkle, so ist doch Myschkin im Konzept Dostojewskijs die Hauptgestalt: Rogoschin gibt für ihn die Kontrastfolie ab. Der helle Myschkin erscheint auf dunklem Hintergrund. Ihre Verschiedenheit, ihrer beider Individualität wird gerade dadurch herausgearbeitet, dass sie ein und derselben Frau, Nastasja Filippowna, verhaftet sind. Die Rivalität Rogoschins um die Liebe Nastasjas scheint die größte Provokation an die Adresse der unendlichen Güte Myschkins zu sein. Liegt jedoch für Myschkin selbst hier wirklich eine Provokation vor? Die Frage ist zu verneinen, während aber umgekehrt die Existenz Myschkins für Rogoschin tatsächlich die größte Provokation bedeutet, denn Rogoschin scheut sich nicht zu rivalisieren; er will sogar seinen Nebenbuhler erstechen, kann es aber nicht: denn angesichts des epileptischen Anfalls, den seine manifeste Mordabsicht in Myschkin auslöst, packt ihn der Schauder, und er entflieht. Damit aber befinden wir uns bereits im zweiten Teil des Romans. Es soll jetzt nur um den ersten Teil gehen.
    Poetologische Rekonstruktion
    Die Erzähltechnik Dostojewskijs ist aus der poetologischen Differenz zu denken, d.h. aus der Differenz zwischen der innerfiktionalen und der außerfiktionalen Begründung des innerfiktionalen Sachverhalts. Die außerfiktionale, poetologische Begründung eines innerfiktionalen Sachverhalts geht der innerfiktionalen, psychologischen Begründung dieses Sachverhalts voraus, wenngleich diese bei erstmaliger Lektüre ohne jene wahrgenommen wird. Wer die poetologische Differenz denkt, sieht also den innerfiktionalen Sachverhalt im Licht einer nachträglichen Überlegung, die diesem Sachverhalt aber gerade vorausliegt, weil sie ihn überhaupt erst konstituiert hat. [69]  
    Das richtige Nacherzählen eines Romans ist noch keine Antwort auf die Frage, worin denn die leitende Problemstellung besteht, die das Ganze gliedert. Das vom Autor ins Werk gesetzte Ziel tritt erst hervor, wenn der Leser hinter der psychologischen Begründung einer Handlung deren poetologische Begründung erkennt, die mit Sicherheit nur der Anlage des Ganzen entnommen werden kann. Neben der Fähigkeit zur psychologischen Einfühlung in die Welt der fiktionalen Gestalten ist vom Leser also Kunstverstand gefordert, das besondere Wissen, es mit einem literarischen Text zu tun zu haben, der ja von seinem Autor darauf angelegt wurde, verstanden zu werden. Der Leser hat, sobald er versteht, immer nur die Verständnislenkung des Autors befolgt, ohne dies zu bemerken. Diesen höchst komplexen Prozess der im Werk beschlossenen Verständnislenkung aufzudecken, hat die poetologische Rekonstruktion zu leisten, die nicht mit der tatsächlichen Entstehungsgeschichte des Werks verwechselt werden darf. Es geht hier ausschließlich um die Entfaltung der gestalteten Sache, die als Kunstergebnis vorliegt.
    Die innerfiktionale, psychologische Begründung dafür, dass Fürst Myschkin aus der Schweiz nach Petersburg reist, besteht darin, dass es ihm nun sein Gesundheitszustand erlaubt, die Heilanstalt Dr. Schneiders zu verlassen, um sich in Russland, wo sein Pflegevater Pawlischtschew vor bereits zwei Jahren gestorben ist, um sein ganz offensichtlich beträchtliches Erbe zu kümmern. Man darf sagen: Myschkin ist als exterritoriale Unperson auf der Suche nach einer sozialen Identität in Russland. Sein »Erbe« entgegenzunehmen gehört mit zum Wesen dieser Suche. Er hält Ausschau nach seiner Familie. Im engeren Sinne hat er keine mehr. Als Erstes will er deshalb die Generalin Jepantschina, eine entfernte Verwandte, aufsuchen, der er aus der Schweiz einen Brief geschrieben hat, ohne von ihr eine Antwort erhalten zu haben. Diese Informationen werden uns von Dostojewskij gleichsam auf Raten mitgeteilt; zwar erfahren wir bereits in der Eingangsszene, dass Fürst Myschkin der Generalin Jepantschina nun einen regelrechten Überraschungsbesuch machen will, wie konkret er jedoch in seiner Erbschaftsangelegenheit unterwegs ist, das kommt völlig überraschend ans Licht, als er am Ende des fünfzehnten Kapitels Nastasja

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