Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Verkörperung des Terrorismus ist Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij: Verkörperung – ganz wörtlich genommen. Man beachte sein Aussehen: »Sein Kopf ist nach hinten verlängert und wie von beiden Seiten zusammengedrückt, so daß sein Gesicht spitz erscheint. Seine Stirn hoch und schmal, die Gesichtszüge aber unbedeutend; der Blick stechend, die Nase klein und spitz, der Mund breit mit schmalen Lippen.« [78] Man versteht sofort, daß Dostojewskij hier durch die Physiognomie das Wesen seines Protagonisten ausdrücken will. Ein äußerst unangenehmes Wesen, wie man sieht! Sofort im Anschluss an die soeben zitierte Passage lesen wir: »Das Gesicht trägt den Ausdruck der Krankheit. Aber der Schein trügt. Eine harte Falte auf den Wangen und neben den Backenknochen verleiht ihm das Aussehen eines Menschen, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat. Und doch ist er vollkommen gesund, kräftig und sogar niemals krank gewesen.« Beachtet sei, dass Dostojewskij mit dieser »harten Falte auf den Wangen und neben den Backenknochen« genau das beschreibt, was der italienische Kriminologe Cesare Lombroso wenig später als die für den Verbrecher typische »ride du vice«, die Lasterfalte, beschreiben wird: »Jochbeinfalte nennen wir eine doppelte oder dreifache Falte auf der Mitte der Wange über dem Jochbein, die, 3–5 cm lang, von oben nach unten verläuft, gegen den Mund zu ein wenig konkav und sich nach unten in die Kinnrunzeln verliert. […] Wir halten sie«, so Lombroso, »für die den Verbrecher am schärfsten bezeichnende Falte.« Und Lombroso vergisst nicht hinzuzufügen, dass diese Jochbeinfalte bereits von Lavater als negatives Charakteristikum benannt worden sei. [79]
Unabhängig von dieser geistesgeschichtlichen Einordnung der auffälligen Jochbeinfalte des Pjotr Werchowenskij ist aber hier von entscheidender Bedeutung, dass durch sie der Eindruck eines Menschen aufkommt, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat. Und doch sei Werchowenskij vollkommen gesund und sogar niemals krank gewesen. Nun ist Krankheit innerhalb der Welt Dostojewskijs, innerhalb der Welt seiner fünf großen Romane, immer das Symptom für falsches Bewusstsein, falsches Bewusstsein nicht im Sinne von Karl Marx als ein falsches Klassenbewusstsein, sondern als unmittelbar moralisch falsches Bewusstsein. Anders ausgedrückt: der Leib ist in der Welt Dostojewskijs Organ der Seele, Krankheit signalisiert den Konflikt zwischen Wunsch und Gewissen. So sind etwa die bewusstseinstrübenden Fieberzustände Raskolnikows in Verbrechen und Strafe kein autonomes Körpergeschehen, sondern Folge des verletzten Sittengesetzes, dessen Ansprüche Raskolnikow nicht wahrhaben will.
Wenn es nun heißt, dass Werchowenskij nur so aussieht, als habe er soeben eine schwere Krankheit durchgemacht, in Wirklichkeit aber nicht nur vollkommen gesund sei, sondern »sogar niemals krank gewesen«, dann bedeutet das, dass in ihm alles sittliche Empfinden petrifiziert wurde und ihm nur noch als gleichsam totes Ornament ins Gesicht geschrieben steht. Er sieht aus wie ein fühlendes Wesen, ist aber keins.
Mit solcher Ausführlichkeit auf Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij einzugehen hat seinen Grund darin, dass er das Politikum in den Bösen Geistern ist – und wenn von Dostojewskijs »Prophetie« in den Bösen Geistern die Rede sein darf, ja sein muss, so vor allem mit Bezug auf Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij. Es ist gewiss kein Zufall, dass Albert Camus die Vorbemerkungen zu seiner eigenen Dramatisierung des Romans unter dem Titel Die Besessenen mit der Feststellung beginnt: »Lange Zeit hat man Marx für den Propheten des 20. Jahrhunderts gehalten. Heute weiß man, dass, was er prophezeite, auf sich warten lässt. Und wir erkennen, dass Dostojewskij der wahre Prophet war. Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht über die Gerechtigkeit vorausgesagt.« [80]
Auf Karl Marx und seine eigene Stellungnahme zu Sergej Netschajew, jenem russischen Revolutionär, der das empirische Vorbild für Dostojewskijs Pjotr Werchowenskij war, ist sogleich noch zurückzukommen. Zunächst aber sei Dostojewskijs Text erneut ins Zentrum gerückt, denn unsere Analyse hatte ja mit der Behauptung begonnen, dass gerade das Kernstück der Handlung in einem Roman von Dostojewskij, weil es so klar und einfach ist, den Interpreten dazu verführt, nicht weiter über es nachzudenken und sich lieber dem Tiefsinn der dialogischen Äußerungen zu
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