Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
wirkliche Idiot scheint Dr. Schneider zu sein, der Leiter des Schweizer Sanatoriums, denn er liefert am Ende für die Krankheit des Fürsten Myschkin eine Begründung, so falsch, dass man es nicht für möglich hält. Nicht Myschkins »geistige Organe« sind, wie Dr. Schneider meint, zerrüttet, sondern seine Seele aufgrund des Erlebten. Nastasjas Ermordung ist keine Ermordung: sie hat ihren Geliebten dazu provoziert, ihr Mörder zu sein, weil sie nicht mehr leben will. Passiver Selbstmord: nicht der Mörder, die Ermordete ist schuldig. Die Nacht des Messers ist »Rogoschins Hochzeitsnacht« (Ulrich Schmid). [75] Nastasja wurde als Minderjährige von ihrem Pflegevater Afanasij Totzkij missbraucht, verlor damit ihre natürliche Liebesfähigkeit und bleibt in der Seele eine Jungfrau jenseits all ihrer Männerbekanntschaften. Sie ist das Gegenteil ihres Rufs. Ihre Rolle als »femme fatale« übernimmt sie nur, um Selbstschändung vor den Augen ihres Beleidigers Totzkij zu begehen, ein Verhalten, das im Text als »Harakiri« gekennzeichnet wird, ohne dass der Terminus fällt (Teil I, Kap. 16; Iwan Ptizyn sagt es), mit dem beim altjapanischen Adel ein ritueller Selbstmord durch Bauchaufschlitzen bezeichnet wurde. Fürst Myschkin kommt als »Narr in Christo«, wie ihn Rogoschin nennt, nur mit einem Bündel als Gepäck aus der Schweiz in Petersburg an, unverkennbar ärmlich, und setzt diesem Eindruck auch nichts entgegen, bis plötzlich zutage tritt, dass er eine erhebliche Erbschaft machen und bald ein reicher Mann sein wird, mit dem Schreiben eines verlässlichen Anwalts bereits in der Tasche. Ist dieser an Epilepsie leidende Fürst in Wahrheit ein Filou, der seine Umwelt an der Nase herumführt? Fürst Myschkin macht vor unseren Augen Nastasja Filippowna einen Heiratsantrag, nachdem er sie nur vor wenigen Stunden ganz förmlich kennengelernt hat. Am Morgen des gleichen Tages hat er sich gleich im ersten Gespräch mit Rogoschin freimütig als impotent bezeichnet.
Die Liebesgeschichte, die sich auf der im ersten Teil geschaffenen Grundlage zwischen Myschkin und Nastasja entspinnt, ist das Hauptthema des Romans: Impotenter Held liebt gefallene Schönheit. Gefallene Schönheit liebt impotenten Helden und weiß, dass sie ihn zugrunde richten würde. Sie lässt sich sexuell mit einem vitalen Messerstecher ein, der sie schließlich aus Eifersucht auf den impotenten Rivalen umbringt. Beide, der Mörder und sein Rivale, verbringen zusammen die Nacht danach am Tatort: einem engen Raum, mit der Leiche der Ermordeten noch im Bett, wo sie erstochen wurde. Nekrophile Andacht mit Desinfektionsmitteln. Der Mörder kommt nach Sibirien, der impotente Held verliert für immer den Verstand. Der »Narr in Christo« und die »femme fatale« – das konnte nicht gut ausgehen.
Als Liebesgeschichte ist das alles so übertrieben, extravagant und phantastisch wie Oscar Wildes Salome , wo die jungfräuliche Titelgestalt ihre körperlichen Reize im Tanz vor Herodes nur einsetzt, um das abgetrennte Haupt Johannes des Täufers verlangen zu können. Der Wunsch wird ihr, wie von Herodes öffentlich versprochen, erfüllt. Und Salome küsst das abgetrennte Haupt auf die Lippen, im Wissen, dass Johannes der Täufer niemals eine Frau berührt hatte und jetzt, weil er tot ist, ihr auch niemals untreu werden kann. Salome hat den idealen Liebespartner gefunden, und Herodes lässt sie auf der Stelle töten. Oscar Wildes Fassung der Story hat bekanntlich Herodias als Faktor ausgeschaltet und damit Salome zu einer eigenständigen Person gemacht. Sie tanzt in eigenem Auftrag, nicht im Auftrag ihrer Mutter, und ist auch keine »femme fatale«, denn sie will, selber treu, absolute Treue des Partners. Dostojewskijs lange Erzählung vom Fürsten Myschkin und Nastasja Filippowna steht der Salome Oscar Wildes an Übertreibung, Extravaganz und Phantastik in nichts nach. Beides ist Camp. Susan Sontag hat aber nur Wildes Salome als Oper von Richard Strauss, inszeniert von Visconti, in ihren Camp-Kanon aufgenommen. Dostojewskijs Idiot hat sie, aus Versehen, wie ich sagen möchte, nicht mit eingeschlossen. [76]
Böse Geister
Einstieg
Böse Geister. Roman in drei Teilen . Im Deutschen auch unter den Titeln Die Teufel , Die Besessenen , Die Dämonen ( Besy ). Entstanden April 1870 – November 1872; Erstdruck in »Der russische Bote« (Russkij vestnik) Januar – November 1871, November und Dezember 1872; Erstausgabe Petersburg 1873. (Beide Mal ohne das
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