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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Kapitel »Bei Tichon«.) Verfasst in Dresden, Petersburg, Moskau, Staraja Russa, Petersburg.
    Der düstere Roman wird von einem sarkastischen Chronisten erzählt, der als Randfigur am Geschehen teilnimmt. Die Erzählperspektive wechselt häufig. So werden einmal Vorgänge geschildert, bei denen der Chronist selber zugegen war, ein andermal ganze Szenenfolgen nachträglich aus den Berichten der Beteiligten erschlossen und schließlich wesentliche Begegnungen intuitiv erfasst, die der Chronist weder belauscht noch anderweitig erfahren haben kann. Die Ereignisse verteilen sich auf einige kühle und meist regnerische Tage und Nächte Ende Sommer und Anfang Herbst. Schauplatz ist eine anonyme Stadt in der russischen Provinz an der Schwelle der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Die Erzähldistanz beträgt drei Monate. Pjotr Stepanowitsch Werchowenskij, ein ehrgeiziger Fanatiker, der eine Terrorherrschaft über ganz Russland erstrebt, gründet aus einigen besonders willigen Gefolgsleuten ein elitäres »Fünferkomitee«. Um die Mitglieder aneinanderzuketten, treibt er sie in eine gemeinsame Schuld: sie bezichtigen ihren eigenwilligen Mitstreiter Iwan Schatow des potentiellen Verrats und bringen ihn in einer kalten Herbstnacht um. Den tödlichen Schuss aus einem amerikanischen Revolver feuert Pjotr Werchowenskij ab. Auf sein Betreiben bekennt sich der Ingenieur Alexej Kirillow, ein abgründiger Theoretiker des Absurden, schriftlich des Mordes an Iwan Schatow für schuldig und begeht danach seinen längst geplanten Selbstmord. Die wahren Zusammenhänge gelangen jedoch schnell an die Öffentlichkeit, und die Untat der Verschwörer wird gerichtlich geahndet. Pjotr Werchowenskij entkommt ins Ausland. Die Polizeigewalt reicht indessen an den Kern des anarchistischen Übels nicht heran. Dieser enthüllt sich in Nikolaj Stawrogin, einem Monstrum an Kaltblütigkeit und Indifferenz, der seine Seele durch widersinniges Handeln mutwillig verkrüppelt und sich schließlich mit einer Seidenschnur erdrosselt. Der gesellschaftliche Hintergrund, auf dem ein Stawrogin zum Faszinosum werden konnte, wird von Dostojewskij sorgfältig abgeleuchtet. Höhepunkt ist eine von der Gouverneursgattin Julia von Lembke veranstaltete Festlichkeit, die in ein allgemeines Chaos ausartet. Das Hereinbrechen asozialen Gesindels in die gute Stube der Gesellschaft lässt den Mangel an lebensfähigen Prinzipien erkennen. Das komplizierte Gefüge der vielfältigen Handlungsstränge findet in Brandstiftung und Gräueltaten seine infernalische Aufgipfelung. Abhilfe zu schaffen wissen weder Stepan Trofimowitsch Werchowenskij, des Fanatikers liberaler Vater, noch der vertrottelte Gouverneur von Lembke, der mit dem Makel deutscher Abstammung behaftet ist, noch der »große Schriftsteller« Karmasinow, der sich bei der revolutionären Jugend anbiedert. Ideologisch gesehen ist das Werk eine Attacke gegen den russischen Atheismus, der von Dostojewskij mit der Tyrannei des Sozialismus als politischem Machtinstrument gleichgesetzt wird. Die Verführung einer Reihe von durchschnittlichen und an sich harmlosen Mitbürgern durch einen Fanatiker zur anarchistisch fundierten Untat wurde Anlass für die suggestive Darstellung einer zum Nachtbild verdunkelten Welt, in der die Wirklichkeit zum Albtraum geworden ist.
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    Die Ermordung Schatows
    Jeder der fünf großen Romane Dostojewskijs hat, ungeachtet ihrer Komplexität, einen ganz simplen Handlungskern. Die Komplexität macht den Interpreten Schwierigkeiten. Der simple Handlungskern aber auch. Die Schwierigkeit, die von der Komplexität ausgeht, besteht darin: das Eine im Vielen zu sehen; die Schwierigkeit, die vom jeweils simplen Handlungskern ausgeht, aber darin, daß man ihn gerade wegen seiner Simplizität nicht adäquat bedenkt.
    Wie sieht der Handlungskern in Dostojewskijs Böse Geister aus? Folgendermaßen: Werchowenskij erschießt Schatow, und Kirillow adoptiert diesen Mord, indem er sich schriftlich dazu bekennt, ihn begangen zu haben, bevor er seinen schon lange geplanten Selbstmord vollzieht. Und der wahre Täter, der dieses falsche schriftliche Geständnis herbeiführt, entkommt ins Ausland.
    Das ist zweifellos eine recht eigentümliche Mordgeschichte. Der tatsächliche Mörder wird nicht bestraft. Ein Selbstmörder, der mit dem Mord gar nichts zu tun hat, bekennt sich schriftlich dieses Mordes für schuldig. Und, was schließlich auch noch zu erwähnen ist: für den Mord gibt es gar kein auf der Hand liegendes

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