Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Sonderstellung Stawrogins hatte restlos in realistische Psychologie umgesetzt zu werden, um nicht abstrakt zu bleiben.
Der Fall Netschajew
Zuvor sei ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Dostojewskij hat, wie fast überall nachzulesen ist, in den Bösen Geistern den Fall Netschajew, den »Prozess Netschajew« literarisch verarbeitet. Nicht überall nachzulesen, wo die Bösen Geister erörtert werden, ist aber, dass sich Karl Marx und Friedrich Engels ausführlich über ebenjenen Sergej Netschajew geäußert haben, der Dostojewskij als empirisches Vorbild für Pjotr Werchowenskij gedient hat. Es handelt sich um eine 140 Seiten lange Abhandlung über das »Treiben Bakunins«, im Auftrage des »Haager Kongresses« verfasst von Marx und Engels unter dem Titel: Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation (zuerst französisch 1873). Betrachten wir die dort vorfindliche Schilderung der Ermordung Iwanows (d.h. Schatows) durch Netschajew (d.h. Pjotr Werchowenskij) in der Formulierung von Marx und Engels, die sich auf Zeitungsberichte berufen: »In der Dunkelheit der Nacht nähert sich Iwanow ohne Argwohn der Grotte. Plötzlich ertönt ein Schrei; jemand springt von hinten auf ihn. Ein schrecklicher Kampf beginnt, man hört nur das Heulen Netschajews und das Röcheln seines Opfers, das er mit den Händen würgt; ein Schuß fällt und Iwanow ist tot. Die Kugel aus Netschajews Revolver war ihm durch den Kopf gegangen. ›Schnell Stricke, Steine!‹ ruft Netschajew, indem er in den Taschen des Ermordeten wühlt, um das Geld und die Papiere herauszunehmen. Dann wirft man die Leiche in einen Teich.« [81]
Es geht hier allerdings nicht um die Details der referierten Empirie, so interessant diese auch sein mögen. Es geht hier um die Beurteilung Netschajews. Marx und Engels wollen von diesem »amorphischen All-Zerstörer« nichts wissen. Nachdem sie die insgesamt 26 Paragraphen seines »Revolutionskatechismus« in extenso aufgeführt haben, vermerken sie hohnvoll, in Netschajew seien »Rudolph von Gerolstein, Monte Christo, Karl Moor und Robert Macaire glücklich in eine Person verschmolzen«. Netschajew trifft der Bannfluch, ihn kennzeichne »Fratzenhaftigkeit«. Mit einem Wort: Sergej Netschajew – das ist nicht die wahre Revolution, das ist überhaupt nicht die Revolution, sondern ihre Verunglimpfung.
Dostojewskij hingegen sagt: Netschajew – das ist die Revolution in ihrem Wesen! Und diese tatsächliche Eigenart der Revolution wird uns von Dostojewskij in der Gestalt des gemütskalten Killers Pjotr Werchowenskij vor Augen geführt.
Die Geschichte hat der Prophetie Dostojewskijs recht gegeben. So wirft etwa Maxim Gorkij einem Lenin »Unvernunft und Anarchismus im Stile Netschajew-Bakunins« vor: am 7. November 1917 in der Zeitung »Neues Leben« (Novaja Žizn’). Am 10. November desselben Jahres weitet Gorkij diesen Vergleich noch aus und schreibt – ebenfalls in »Neues Leben«: »Wladimir Lenin führte in Russland die sozialistische Regierungsform nach der Methode Netschajews ein: ›Mit Volldampf durch den Sumpf‹. Lenin, Trotzkij und all die anderen, die sie auf ihrem Weg in den Untergang im Sumpf der Wirklichkeit begleiten, sind offensichtlich wie Netschajew davon überzeugt, daß ›man den russischen Menschen mit dem Recht auf Ehrlosigkeit am leichtesten für sich begeistern kann‹; und nun entehren sie kaltblütig die Revolution, entehren die Arbeiterklasse, indem sie die Arbeiter zwingen, blutige Gemetzel und Pogrome zu veranstalten […].« [82]
Man sieht: Gorkij argumentiert wie Karl Marx, indem er Lenin vorwirft, durch Übernahme der Prinzipien eines Netschajew die Revolution zu verraten. Dostojewskij aber sagt: Netschajew – das ist das Wesen der Revolution. Nicht ohne Interesse ist in solchem Zusammenhang der Hinweis Gretchen Dutschkes, ihr Mann, Rudi Dutschke, habe ihr gegenüber betont, er sei ein Revolutionär, müsse die Revolution machen und habe sich dabei auf den russischen Anarchisten Sergej Netschajew berufen. [83] Dies mag genügen, um klarzustellen, dass Dostojewskijs Böse Geister , geht man vom vierfachen Schriftsinn [84] aus, mit ihrem »allegorischen Sinn« die geschichtliche Wahrheit getroffen haben.
Der vierfache Schriftsinn
Ausgegangen wurde soeben, wie nun rückwirkend festzustellen ist, vom »realistischen Sinn«, der Nacherzählung des Kernstücks der Handlung in ihrer Tatsächlichkeit. Aus diesem realistischen Sinn stieg der allegorische Sinn
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