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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Motiv: weder ist es ein Mord aus Leidenschaft noch ein Mord aus materieller Habsucht. Es ist auch kein Mord, der einen Verräter bestrafen soll; dieses Motiv spricht Werchowenskij zwar suggestiv aus, glaubt aber selber gar nicht daran, sondern will sein »Fünferkomitee« nur in eine gemeinsame Schuld treiben, um es dadurch zu beherrschen. Er mordet, um seine Macht zu etablieren: »Bestrafung« als Willkürhandlung, in der das Böse um seiner selbst willen aufblitzt.
    Die Szene der Ermordung Schatows, an die alles andere, was im Roman geschieht, gleichsam angeheftet ist – illustrierend, kommentierend, umspielend –, verdient eine ganz besondere Beachtung: Schatow befindet sich im Zustand der totalen Wehrlosigkeit, als er von Werchowenskij ermordet wird.
    Da Schatow sehr kräftig ist, wird er vor seiner Ermordung zunächst niedergeschlagen: von Tolkatschenko, Liputin und Erkel, gemeinsam. Sie drücken ihn zu Boden, und Werchowenskij springt mit seinem Revolver, einem amerikanischen Revolver, hinzu: »Es wird erzählt, Schatow habe noch den Kopf drehen, ihn ansehen und ihn erkennen können. Drei Laternen beleuchteten die Szene. Schatow stieß plötzlich einen kurzen verzweifelten Schrei aus, aber man ließ ihm zum Schreien gar keine Zeit: Pjotr Stepanowitsch setzte ihm akkurat und energisch den Revolver mitten auf die Stirn, presste ihn fest an – und drückte ab […]. Der Tod trat fast augenblicklich ein.« [77]   Man beachte den Zustand der totalen Wehrlosigkeit des Opfers. Die Wehrlosigkeit des Opfers ist auch für sämtliche anderen Morde in Dostojewskijs großen Romanen typisch, man denke an die Wucherin in Verbrechen und Strafe , die sich gerade über ein vermeintliches Pfand beugt, als sie von Raskolnikow mit der stumpfen Seite seines Beils erschlagen wird, und Lisaweta, die Stiefschwester der Wucherin, hebt nur kaum merklich die linke Hand, »aber nicht bis zum Gesicht«, als Raskolnikow sie mit der Schneide seines Beils tödlich an der Schläfe trifft. Unter dem rechten Arm trägt sie ein Bündel Wäsche. Auch Nastasja Filippowna im Roman Der Idiot befindet sich, wie wir schließen müssen, im Zustand der Wehrlosigkeit, als sie von Rogoschin im Bett erstochen wird; desgleichen Fjodor Karamasow, der sich gerade aus dem Fenster beugt, als ihm Smerdjakow hinterrücks mit einem gußeisernen Briefbeschwerer den Schädel einschlägt. Durch die Wehrlosigkeit der Opfer betont Dostojewskij das freiheitliche Tun des Täters.
    Auch sei beachtet, dass Dostojewskij seine Opfer immer in einer für sie typischen Situation, in einem für sie typischen Gestus sterben lässt, nämlich so, wie sie gelebt haben: Aljona Iwanowna, die Wucherin, beugt sich gerade über Raskolnikows vermeintliches Pfand, um es aufzuwickeln, als sie ermordet wird – eine Geste, die ihr Leben ausmachte; Fjodor Karamasow flüstert Liebesworte in den dunklen Garten, weil er Gruschenka dort vermutet, als er ermordet wird – ein Gestus, der für sein Leben typisch war. Wenn wir diese Systematik Dostojewskijs beachten, enthüllt sich auch Schatows Sterben in seiner Exemplarik: er wird von seinen vermeintlichen Mitstreitern zu Boden gedrückt. Das ist genau die Situation, in der er gelebt hat. Schatows Geschichtsphilosophie mit Russland im Zentrum erhält durch die Umstände seines Todes eine bildliche Auszeichnung: Nichtswürdige halten ihn nieder.
    Doch wenden wir unsere Aufmerksamkeit erneut dem Täter zu. Werchowenskij, d.h. Pjotr Stepanowitsch, begeht als einziger der dostojewskijschen Täter einen Mord regelrecht unter Zeugen. Es ist zwar Nacht, eine kalte Herbstnacht tief in der russischen Provinz, als Schatow erschossen wird, doch »drei Laternen beleuchteten die Szene«. Das heißt: Werchowenskij demonstriert seinen Leuten, dass er mordet! Und er beteiligt sie an seinem Mord: als Mittäter und Zuschauer, die nicht eingreifen.
    Das Böse, das hier um seiner selbst willen vollzogen wird, dient Werchowenskij dazu, seine Gefolgsleute in eine gemeinsame Schuld zu stürzen. Werchowenskij demonstriert damit seine Macht als solche. Er zeigt öffentlich, wozu er fähig ist: zum Mord aus Willkür. Der Terrorist ist Herr über Leben und Tod dessen, den er nach eigenem Gutdünken zum Feind erklärt. Darin liegt seine Macht. Er kennt nur eine Leidenschaft: den Terrorismus. Von Werchowenskij gehen deshalb Verführung und Drohung zugleich aus. Dostojewskijs These: Der Terrorismus ist zuallererst ein Terrorismus in den eigenen Reihen. Die

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