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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Kirillow, die Dialektik getreten.
    Vergessen wir nicht, dass alle drei, Schatow, das Opfer, Werchowenskij, der Mörder, und Kirillow, der Selbstmörder, der Werchowenskijs Mord adoptiert, mit dem, was sie denken und tun, die Geschöpfe Stawrogins sind. In der Konfrontation mit ihnen wird Stawrogin mit den Komponenten, mit den Möglichkeiten seiner eigenen Innerlichkeit konfrontiert, Möglichkeiten, die zur Wirklichkeit geworden sind. Und diese Konfrontationen machen das Zentrum des Romans aus, nämlich den mittleren Teil seiner drei Teile. Stawrogins Suggestionen, so zeigt uns Dostojewskij, sind erfolgreich: es erfolgt etwas. Und doch wird Stawrogin dieses Erfolges nicht froh: sein Werk, die Antischöpfung, Ausgeburt des kreativen Nihilismus, lässt keine Betrachtung zu, kein Zur-Ruhe-Kommen im Anblick des Geschaffenen – es ist nur dazu da, sich selber im Sog der Untat aufzulösen. Sein Werk ist, mit einem Wort, die Darstellung seiner eigenen Lebensunfähigkeit. Die Welt in seinem Kopf ist hier für die Dauer einer Nacht voller Mühe zur Wirklichkeit der Außenwelt geworden.
    Stawrogins Beichte
    Dieser Gedanke findet sein separates Destillat in dem so umstrittenen Kapitel »Bei Tichon«. Umstritten, denn die Frage, gehört es nun zum Roman oder nicht, wird von verschiedenen Herausgebern, zumindest in Deutschland, verschieden beantwortet. Die maßgebenden russischen Editionen bringen das Kapitel »Bei Tichon« nur im Anhang. In der deutschen Übersetzung des Romans von Swetlana Geier wurde das Kapitel, wie von Dostojewskij ursprünglich vorgesehen, als Kapitel 9 des zweiten Teils hinzugefügt.
    Stawrogin erläutert dort Bischof Tichon, dass er an Halluzinationen leide – »einer Art von Halluzination«: er sehe oder fühle manchmal neben sich ein bösartiges Wesen ( zlobnoe suščestvo ); »hohnvoll und vernünftig […] mit verschiedenen Gesichtern und verschiedenen Charakteren, dabei aber immer ein und dasselbe …« Er selber gerate jedes Mal in Wut. Tichon rät ihm, einen Arzt aufzusuchen. Stawrogin stimmt ihm zu, winkt dann aber ab: »Das ist alles Unsinn, schrecklicher Unsinn. Das bin ich selbst in verschiedener Gestalt, und weiter nichts.« Das heißt also, Stawrogin gerät in Wut angesichts »einer Art von Halluzination«, die ihn seiner selbst in verschiedener Gestalt ansichtig werden lasse und dabei doch ihre Identität behalte: die Identität eines »bösartigen Wesens«.
    Man sieht: Dostojewskij legt hier die Innerlichkeit Stawrogins explizit heraus. Sie wird diesem zum halluzinativ erfahrenen Teufel. Stawrogins Beichte, die er nun Tichon zu lesen gibt, hat er im Ausland auf Russisch drucken lassen. Sie soll in alle Sprachen übersetzt werden. Als Stawrogins (Un-)Frohe Botschaft an die Menschheit lässt sie seinen Selbstmord zur Selbst-Kreuzigung werden (griechisch stavros = »Kreuz«). Stawrogin ist Dostojewskijs Gegen-Christus (kein Antichrist im Sinne Nietzsches), der die Menschheit von der misslungenen Schöpfung erlösen will, den Boden der Sittlichkeit verlassen hat und deshalb exterritorial als »Bürger des Kantons Uri« seinen Geist aufgibt. Das dem Roman vorangestellte biblische Motto mit Christus als Hauptfigur (Lukas 8, 32–36) impliziert bereits als den wahren Schluss des Romans: die Selbstkreuzigung Stawrogins, der das Leben verneint und eine gegenläufige (d.h. pervertierte) Imitatio Christi vollzieht.
    Das Verhältnis Stawrogins zu seinen drei Schülern (seinen drei Jüngern, so könnte man sagen: zu Schatow, Kirillow und Werchowenskij) ist sowohl psychologisch als auch poetologisch äußerst kompliziert. Was Dostojewskij psychologisch zu leisten hatte, lässt sich allerdings nur ermessen, wenn man die poetologische Aufgabe bedenkt, die sich Dostojewskij gestellt hat. Er hatte nämlich gegenüber Schatow, Kirillow und Werchowenskij eine Gestalt zu entwerfen, die die Summe der Wunschvorstellungen dieser drei Personen war: gleichsam einen Erlöser! Man denke etwa an Rilkes Gedicht Der Abenteuerer , dessen Titelfigur das Phantom der Hoffnungen aller anderen Menschen verkörpert. Stawrogin ist in ganz ähnlicher Weise die Projektionsfläche der Hoffnung der anderen, allerdings müssen wir in diesem Fall statt Hoffnung besser sagen: der Besessenheit aller anderen. Und doch musste er, getreu den Regeln der »realistischen« Poetik Dostojewskijs, im Realitätsstatus ununterscheidbar neben den von ihm inspirierten, von ihm geprägten Gestalten auftreten können. Kurzum: die allegorische

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