Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
den Ausgang der Geschichte ganz zum Schluss: Stawrogin hat sich erhängt; mit einer Seidenschnur; hoch oben, fast unter dem Dach, in einem engen Zimmer. Im Haus seiner Mutter. Der allerletzte Satz des Romans lautet: »Unsere Mediziner haben nach der Obduktion des Leichnams eine geistige Zerrüttung vollkommen und entschieden ausgeschlossen.« Was bedeutet das? »Geistige Zerrüttung« (russ. pomešatel’stvo ), das heißt: Geisteskrankheit wurde ausgeschlossen – aufgrund einer Obduktion? Offensichtlich haben »unsere Mediziner« nach einer physiologischen Ursache für die stadtbekannten Absurditäten dieses Selbstmörders gesucht, die sie sich nur als organische Erkrankung erklären konnten. Eine solche Erklärung aber war nicht zu finden. Der letzte Satz der Romans lässt Stawrogin als Rätsel zurück. Als Rätsel für »unsere Mediziner«, denn von den Leiden des »Bürgers des Kantons Uri« an der Wirklichkeit, deren Teil er zwangsläufig war, können sie nichts ahnen.
Mit den drei Epilogen seines Chronisten setzt Dostojewskij einen deutlichen Akzent; alle drei Hauptgestalten verschwinden aus der Welt, die wichtigste zuletzt: Stawrogin. Auch daran wird deutlich: dieser Roman wurde von Dostojewskij weitaus komplizierter angelegt als Der Idiot , der wiederum komplizierter aufgebaut ist als Verbrechen und Strafe . Um in die Bösen Geister richtig hineinzukommen, empfiehlt es sich, nach Erstlektüre, vier Kapitel hintereinander zu lesen: »Statt einer Einleitung: Einige Einzelheiten aus der Biographie des vielverehrten Stepan Trofimowitsch Werchowenskij« (Teil I, Kap.1), »Bei den Unsrigen«, »Iwan Zarewitsch«, »Bei Tichon« (Teil II, Kap. 7, 8, 9). Mit solcher Lektüre würde der gesellschaftliche Entwicklungsprozess, den die Bösen Geister protokollieren, anschaulich zugespitzt vor Augen treten: vom Liberalismus des Stepan Trofimowitsch zur Beichte Stawrogins. Das heißt: die alles verzeihende Toleranz des verhinderten Geschichtsprofessors bringt die »Unsrigen« hervor, die mit hemmungslosen Sinnentwürfen die Menschheit beglücken wollen, auf diese Weise aber nur den Zynismus eines Pjotr Werchowenskij an die Macht bringen. Stawrogin ist der Einzige, der diese Entwicklung reflektiert, sie der missratenen Schöpfung zuschreibt und deshalb noch fördert, um aufgrund dieser Einsicht in den wahren Lauf der Dinge seine Seele bewusst zu verkrüppeln. Das Kapitel »Bei den Unsrigen« fasst alle späteren Diskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts über Kulturpessimismus, Revolution und das Paradies der Erniedrigten und Beleidigten bündig zusammen wie eine Vollversammlung von Berliner Studenten im Jahre 1968. In Dostojewskijs Text sind Lenin, Ernst Bloch und Rudi Dutschke bereits voll da.
Stawrogins Beichte »Bei Tichon« ist, so darf man sagen, das Abgründigste, was Dostojewskij jemals geschrieben hat. Denn Stawrogin referiert mit höchstem sittlichen Bewusstsein seine Untat des sexuellen Missbrauchs eines minderjährigen Mädchens, das er damit absichtsvoll in den Selbstmord treibt, ohne sich selbst schuldig fühlen zu können, weil er die Möglichkeit seines eigenen Verhaltens den Prämissen einer Schöpfung zuschreibt, die er selber ablehnt. Deshalb hat er ja, wie er Bischof Tichon eröffnet, seine Beichte nicht nur schriftlich fixiert, sondern bereits (im Ausland) drucken lassen und plakatiert so seine eigene Schande: alle Welt soll wissen, wie die Welt, in der die Menschen auf ewig leben müssen, in Wahrheit aussieht.
Walter Benjamin entdeckt in Stawrogins Beichte eine engste Berührung mit Lautréamonts Gesängen des Maldoror , in denen der dritte Gesang eine Rechtfertigung des Bösen enthalte, die »gewisse Motive des Surrealismus gewaltiger ausprägt, als es irgendeinem seiner heutigen Wortführer gelungen ist«. Und deshalb kann Benjamin sagen: »Stawrogin ist ein Surrealist avant la lettre.« Die Begründung dafür sieht folgendermaßen aus: »Es hat keiner so wie er begriffen, wie ahnungslos die Meinung der Spießer ist, das Gute sei zwar bei aller männlichen Tugend dessen, der es übt, von Gott inspiriert; das Böse aber, das stamme ganz aus unserer Spontaneität, darin seien wir selbständig und ganz und gar auf uns gestellte Wesen. Keiner hat wie er auch in dem gemeinsten Tun und gerade in ihm die Inspiration gesehen. Er hat noch die Niedertracht als etwas so im Weltlauf, doch auch in uns selber Präformiertes, uns Nahgelegtes, wenn nicht Aufgegebenes erkannt wie der idealistische Bourgeois
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