Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Geister nimmt nur zum Schein »Gestalt« an. Er ist ganz und gar Instrument für die Herstellung des Interessanten.
Diese Feststellung gilt auch für die weltanschauliche Konturierung des Erzählers. Die »Haltungen« dieses »jungen Mannes«, der uns ja nachdrücklich als einer der »Unsrigen« vorgestellt wird und in Wahrheit gar nicht so jung ist, sind, recht besehen, Attitüden: Er möchte sich seinem vorausgesetzten Publikum weltmännisch geben, sein Urteilen steht aber selber in der Dimension des »Geredes«. Er ist schlau und beschränkt zugleich. Dostojewskij schiebt hier einen Gewährsmann vor, der seine eigenen Pointen nicht versteht. Der Leser sieht sich dadurch vor die Aufgabe gestellt, gegenüber dem Sarkasmus und dem Sentiment dieses Erzählers stets wachsam zu bleiben. Das heißt: Der Maßstab, an dem sich die Ereignisse gemessen sehen wollen, muss erschlossen werden. Dostojewskij lässt ihn nirgends explizit werden.
Russland in Bewegung
Russland ist so weit gekommen, für die Verführung durch einen Pjotr Werchowenskij reif zu sein. Gleichzeitig lässt sich sagen: Erst der Liberalismus eines Stepan Werchowenskij »erzeugt« einen Pjotr Werchowenskij. In einer wichtigen Szene erkennt Stepan Werchowenskij seinen Sohn nicht wieder: »Pierre, mon enfant, ich habe dich ja gar nicht erkannt!« Das Französische zeigt die objektive Distanz Stepan Werchowenskijs zum Positiven an. Zwar hat er nicht »gewollt«, was aus Pjotr wurde, doch ist er der »Vater«. Verwandtschaftsverhältnisse werden von Dostojewskij sämtlich allegorisch besetzt. So wird angedeutet, dass Pjotr aus einem Liebesverhältnis seiner untreuen Mutter mit einem Polen hervorging. Für den Ideologen Dostojewskij hat das absolut Böse ausländisches Blut. Wenn Stawrogins Kind, das Schatows Frau zur Welt bringt, stirbt, so heißt das, dass die von Stawrogin gelebten Prinzipien keine Zukunft haben, nicht lebensfähig sind.
Der Zustand des Gemeinwesens wird durch die Zustände privatester Partnerschaften ausgedrückt. Es gibt in den Bösen Geistern keine intakte Partnerschaft: die einzige, die sich anbahnt, nämlich die zwischen Schatow und seiner zurückgekehrten Frau, wird durch Pjotr Werchowenskij zerstört. Die realisierte Herrschsucht der Frauen, man denke an Warwara Stawrogina und Julia von Lembke, ist Ausdruck der falschen Machtverhältnisse. Überall nur »zufällige« Familien!
Wie also sieht die Genese des Bösen aus, das mit der Ermordung Schatows zum inneren Höhepunkt gelangt? Der Debattier-Klub des liberalen »Hochschullehrers« lässt alle nur denkbaren Ideen freiwerden: als »schönes Gerede«. Der Erzähler stellt das so dar: »Eine Zeitlang hieß es von uns in der Stadt, unser Kreis sei eine Pflanzstätte der Freigeisterei, der Ausschweifung und der Gottlosigkeit, und dieses Gerücht verstärkte sich immer mehr. Und dabei plauderten wir doch nur auf ganz unschuldige, liebenswürdige, echt russische, lustige und liberale Art miteinander. Der ›höhere Liberalismus‹ und der ›höhere Liberale‹, nämlich ein Liberaler ohne jedes Ziel, sind ja nur in Russland möglich.« Was hier unter dem politischen Kennwort des »Liberalismus« beschrieben wird, ist in Wahrheit eine ästhetische Lebenseinstellung. Alles wird bejaht, nämlich »verstanden«. Typisch für solches Verstehen ist die folgende Episode. Von Stepan Werchowenskij heißt es: »Seine Vorträge über die primitiven Menschen und Völker waren interessanter als arabische Märchen. Lisa hörte wie gebannt zu, äffte aber zu Hause Stepan Trofimowitsch in höchst drolliger Weise nach. Er erfuhr davon und ertappte sie einmal unversehens dabei. Lisa war so verwirrt, daß sie sich ihm in die Arme warf und in Tränen ausbrach, auch Stepan Trofimowitsch fing an zu schluchzen, aber vor lauter Entzücken …« [90]
Wo eine Gesellschaft im Geiste eines solchen »Liberalismus« erzogen wird, ist sie reif für die Bösen Geister . Der Debattier-Klub bringt, gleichsam unter der Hand, die entsprechende soziale Wirklichkeit hervor. Der Gouverneur von Lembke und seine Frau Julia herrschen plötzlich. Dichtung verkommt ins Sentimentale: »Eine Nixe flötet im Gebüsch. Gluck spielt im Schilf Geige«, so referiert der Erzähler das verlesene Werk des »großen Schriftstellers« Karmasinow. Was als Selbstdarstellung der herrschenden Klasse in schöner Festlichkeit gedacht war, schlägt um in allgemeines Chaos. Asoziales Gesindel bricht in die gute Stube der Gesellschaft ein.
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