Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
die Tugend. Dostojewskis Gott hat nicht nur Himmel und Erde und Mensch und Tier geschaffen, sondern auch die Gemeinheit, die Rache, die Grausamkeit. Und auch hier ließ er sich nicht vom Teufel ins Handwerk pfuschen. Darum sind sie alle bei ihm ganz ursprünglich, vielleicht nicht ›herrlich‹, aber ewig neu ›wie am ersten Tag‹, himmelweit entfernt von den Klischees, unter denen dem Philister die Sünde erscheint.« [91]
Comte de Lautréamont (Pseudonym für Isidore-Lucien Ducasse) lebte von 1847 bis 1870. Sein einziges Werk, Les Chants de Maldoror ( Die Gesänge des Maldoror , deutsch von Ré Soupault), entstand 1868/69, wurde aber erst 1890, fast unbeachtet, veröffentlicht. Eine für den Autor broschierte Ausgabe von 1869 kam nicht in den Handel. Nach dem Ersten Weltkrieg aber wurde Lautréamont von den Surrealisten entdeckt und verherrlicht, die in ihm ihren Vorläufer sahen. Der dritte Gesang behandelt, eingebettet in freies Assoziieren in der Art der späteren »écriture automatique«, ein Sittlichkeitsverbrechen Maldorors an einem jungen Mädchen bei hellem Sonnenschein. Wörtlich heißt es, die Ausschaltung des schlechten Gewissens betreffend: »Wie sollten die Menschen solchen strengen Gesetzen gehorchen, wenn der Gesetzgeber selber, und als erster, es ablehnt, sich ihnen zu fügen?«
Maldoror hetzt zusätzlich seinen Hund auf das wehrlos daliegende Opfer der Vergewaltigung. »Das junge Mädchen hält« dem Hund »das goldene Kreuz entgegen, das seinen Hals schmückte, damit er es verschone; es hatte nicht gewagt, es den wilden Augen dessen entgegen zu halten, der zuerst auf den Gedanken gekommen war, die Schwäche seines Alters auszunutzen.« [92]
Walter Benjamins literarhistorische Vernetzung der Beichte Stawrogins ist zwar eine überraschende Konnotation, aber keine willkürliche. Beide, Dostojewskij wie Lautréamont, arbeiten mit einem »Helden,« der zutiefst von einem christlichen Sündenbewusstsein geprägt ist, das er unter Berufung auf die böse Schöpfung abstreifen möchte.
Der literarischen Öffentlichkeit wurde Lautréamont erst bekannt, als André Breton Les Chants de Maldoror 1919 in der Zeitschrift »Littérature« veröffentlichte. Ganz ähnlich schlummerte das Kapitel »Bei Tichon« bis zum Jahre 1906, als es im Rahmen einer russischen Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs in einer zufällig überlieferten Fassung der Druckfahnen veröffentlicht wurde, wenn auch nur in seinem Ersten Teil, der den Dialog zwischen Stawrogin und Bischof Tichon vor Einsetzen der »Beichte« enthält.
Erst 1922 erscheint die davon teilweise abweichende, fast vollständige Nachschrift Anna Grigorjewnas, der Frau Dostojewskijs, in der Zeitschrift »Vergangenheit« (Byloe), herausgegeben von Wassilij Komarowitsch. Aus den zwei defekten Fassungen des Kapitels, die Dostojewskijs unabgeschlossene Korrekturvorgänge widerspiegeln, wurde von Leonid Grossman eine kontaminierte Fassung hergestellt, weil die von Dostojewskij selbst korrigierte vollständige Endfassung des Kapitels »Bei Tichon« bislang nicht gefunden wurde. Das heißt: ein Text letzter Hand liegt auch im Anhang der jetzt maßgebenden russischen Akademie-Ausgabe des Romans von 1974 nicht vor. [93] Mit dem Verbot des Kapitels »Bei Tichon« (Kapitel 9 des Zweiten Teils) hat der Verleger Michail Katkow seinem Autor Dostojewskij zweimal seinen Willen aufgezwungen, sowohl beim Erstdruck des Romans im »Russischen Boten« (Russkij vestnik) als auch für die Buchveröffentlichung (1873). Dieses Verbot aber hat der Beichte Stawrogins eine ganz besondere Aufmerksamkeit verschafft, zu der auch die komplizierten Fakten der Textgeschichte, die ja immer noch nicht zu Ende ist, ihren Beitrag liefern.
Ein grüner Junge
Einstieg
Ein grüner Junge. Roman in drei Teilen . Im Deutschen auch unter den Titeln Junger Nachwuchs , Werdejahre , Ein Werdender , Der Jüngling ( Podrostok ). Entstanden Februar 1874 – November 1875; Erstdruck in »Vaterländische Annalen« (Otečestvennye zapiski) Januar – Dezember 1875; Erstausgabe Petersburg 1876. Verfasst in Petersburg, Bad Ems und Staraja Russa.
Mit 20 Jahren greift Arkadij Dolgorukij, Erzähler und Hauptperson, unter dem Ansturm unverwundener Erlebnisse zur Feder. Ausführlich geschildert werden aus einer Distanz von etwa einem halben Jahr nur einige wenige Tage im herbstlich verhangenen Petersburg des Jahres 1873. Nach einsamer Kindheit und Jugend bricht Arkadij Makarowitsch Dolgorukij, der
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