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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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haben seine fünf großen Romane ihre eigene »Geschichte«. Von Verbrechen und Strafe (1866/67) bis zum Grünen Jungen (1875) lässt sich eine systematische Steigerung der Artistik bei der Bewältigung mehrsträngiger Handlungsmuster feststellen. Erst mit den Brüdern Karamasow (1879/80) setzt, nicht nur in erzähltechnischer Hinsicht, eine Beruhigung ein, wenn auch hier die zu verzögernde Offenlegung von Tat und Geständnis ganz spezielle Überraschungseffekte hervorgebracht hat. »Geheimnis« und »Spannung« bleiben durchgehend das höchste Gut der Erzähltechnik Dostojewskijs.
    Die Bösen Geister (1871/72) sind innerhalb der Reihe der großen fünf Romane Dostojewskijs der dritte. Im Unterschied zu den beiden vorhergehenden Romanen, nämlich zu Verbrechen und Strafe (1866/67) und zum Idioten (1868/69), wird in den Bösen Geistern der Ermittlungsvorgang selber Thema der Darstellung. Der Erzähler tritt zwar auch im Idioten verschiedentlich wie eine Person vor unseren Blick, doch sehen wir erst in den Bösen Geistern einen »Chronisten« regelrecht bei der Arbeit. Die Eigenart seines Erzählens besteht nun darin, dass er niemals die Pointen der zu schildernden Geschehnisfolgen vorwegnimmt. Dies geht so weit, dass wir so gut wie nie Hinweise darauf erhalten, wer von den Personen unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. So ist etwa der ersten Erwähnung Pjotr Werchowenskijs nicht anzusehen, dass hier eine Hauptperson in unseren Horizont gebracht wird. Hinweise auf den Ausgang der Geschichte bleiben allgemeinster Art: »Dieser ›morgige Tag‹, das heißt ebenjener Sonntag, an dem das Schicksal Stepan Trofimowitschs sich unwiderruflich entscheiden sollte, war einer der bedeutungsvollsten Tage meiner Chronik. Es war ein Tag der Überraschungen, an dem frühere Knoten gelöst und neue geschürzt wurden, ein Tag greller Aufklärungen und noch ärgeren Wirrwarrs.« [88]   Aus solcher Perspektive gewinnt alles Dargebotene, trotz der rigorosen Abrichtung auf einen Überraschungseffekt, eine regelrecht lyrische Präsenz. Man könnte sagen: Dostojewskij lässt zwei einander ausschließende »Einstellungen« miteinander konkurrieren: die Ruhe der autonomen Impression und die Unruhe des gedanklichen Vorauseilens und Rückschließens. Paradox formuliert: Der Text ist so dicht, dass wir ihn verstehen können, ohne ihn zu »verstehen.« Es spricht zweifellos für den künstlerischen Rang eines Textes, wenn er den Leser dazu animiert, sich im Unverstandenen und Dunklen einzurichten und aufzuhalten.
    Nichts wäre verfehlter als die Annahme, dass die Wirrnis der Informationen, in die uns der Chronist der Bösen Geister hineinstellt, auf erzähltechnischer Nachlässigkeit oder sogar Unschlüssigkeit des Autors beruhte. Wenn uns Dostojewskij seinen Erzähler als einen im Schreiben ungeübten Mann vorstellt, so gehört solches Eingeständnis zum Gestus des Erzählens selber, ist Kunstmittel.
    Die Art, wie Dostojewskij seinen Erzähler in den Bösen Geistern einsetzt, erfordert hohes Kunstverständnis, um nicht wegen angeblicher Inkonsequenzen getadelt zu werden. Zunächst wird uns der Erzähler ganz und gar »realistisch« präsentiert: Was er erzählt, beruht entweder auf Augenzeugenschaft oder auf penibel nachgewiesenen Hinterbringungen. Die Bösen Geister bringen die Wirklichkeit des Gerüchts zur Entfaltung. Personen treten aus der Bodenlosigkeit des Geredes vor unser Auge und können beliebig ihr Aussehen verändern. So heißt es über Stawrogin bei seinem ersten Auftritt: »Ich hatte erwartet, ein schmutziges, zerlumptes, durch Ausschweifungen verbrauchtes, nach Branntwein riechendes Individuum vor mir zu sehen. Er aber war ganz im Gegenteil der eleganteste Gentleman, den ich jemals gesehen habe […].« [89]   Das Prinzip belegter Zeugenschaft wird jedoch von Dostojewskij an wesentlichen Stellen durchbrochen. So werden plötzlich ganze Szenen im Wortlaut wiedergegeben, die der Erzähler weder belauscht noch anderweitig in Erfahrung gebracht haben kann. Man denke an die programmatische Unterredung zwischen Stawrogin und Werchowenskij (»Iwan Zarewitsch«) oder an jene Geschehnisfolge, die im Selbstmord Kirillows ihren Gipfel hat (»Nächtliche Mühsal«). Das heißt: Sobald die Inhalte es erfordern, lässt Dostojewskij seinen Erzähler zu einem phantastischen Stenographen werden. Der Text sieht mithin nicht vor, dass man die Position des Erzählers »realistisch« durchdenkt. Man könnte sagen: Der Erzähler der Bösen

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