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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Junge miteinander verbindet, so ist das die »Suche nach dem Vater«. Dostojewskij sieht sein zeitgenössisches Russland durch Vaterlosigkeit bestimmt. Die heranwachsende Generation findet bei ihren leiblichen Vätern keine lebensfähigen Prinzipien vor. Man beachte, dass die Helden der Romane Dostojewskijs zwischen neunzehn und neunundzwanzig Jahre alt sind.
    Raskolnikow hat keinen Vater, Myschkin hat keinen Vater, Stawrogin hat keinen Vater. Ihre Väter sind verstorben. In den Bösen Geistern aber lässt Dostojewskij zum ersten Mal einen geistigen Vater auftreten: Bischof Tichon, der aber keinen Einfluss auf Stawrogin ausübt. Zudem ist das Kapitel »Bei Tichon« im Erstdruck der Bösen Geister nicht enthalten (desgleichen nicht in der Buchausgabe). Auch Arkadij Dolgorukij, der »Jüngling«, hat keinen leiblichen Vater, der ihm eine Stütze wäre. Jedoch ist dieser zum ersten Mal wirklich präsent in der Gestalt Andrej Werssilows, dessen illegitimer Sohn Arkadij ist. Mit dieser Präsenz des leiblichen Vaters geht jedoch in diesem Roman die leibliche Präsenz eines geistigen Vaters einher: Makar Dolgorukij, der Pilger und ehemals leibeigene Gärtner, hat Arkadij, den unehelichen Sohn seiner untreuen Ehefrau Sofja, nicht nur akzeptiert und ihm seinen Namen gegeben, sondern ist ihm auch ein geistiger Halt, wurzelnd in christlicher Frömmigkeit. Makar erhielt von Werssilow für die Verführung Sofjas dreitausend Rubel als Entschädigung, die sich inzwischen durch Zinsen verdoppelt haben und Sofja von Makar testamentarisch vermacht wurden. Werssilow hatte für Sofja in keiner Weise vorgesorgt.
    Halten wir fest: Im Grünen Jungen kommt Dostojewskijs Nachdenken über Russland zum ersten Mal aus der Vaterlosigkeit heraus, indem der heranwachsende Held zwischen zwei Vätern steht: einem leiblichen, der ihn rechtlich verleugnet, und einem geistigen, der ihn rechtlich anerkennt. Der Mann aus dem Volke trägt den Adelsnamen Dolgorukij. Dostojewskij will damit sagen: Der wahre Adel, der Adel des Geistes, ist nicht in der russischen Adelsschicht zu finden, sondern unter den wachen Kräften des Volkes. Makar erwartet zwar, dass nach seinem Tod Werssilow Sofja heiratet, eine solche Ehe zwischen Adel und Volk wäre jedoch für Dostojewskij eine verfrühte Allegorie und bleibt deshalb ausgespart.
    Erzählsituation
    Erzähler und Hauptperson ist der zwanzig Jahre alte Arkadij Makarowitsch Dolgorukij, der im Banne quälender Betroffenheit Erlebnisse schriftlich fixiert, die etwa ein halbes Jahr zurückliegen und sich an nur wenigen Tagen abspielen. Will man unbedingt datieren, so könnte man sagen: Der Jüngling schreibt Mitte Mai 1874 über eine Reihe von Tagen im September, November und Dezember des Vorjahres. Genau gesagt: Es werden drei Tage jeweils ausführlich geschildert: der 19. September, der 15. November und der 10. Dezember des Jahres 1873. Jeder dieser drei »großen« Tage bildet mit fünf Kapiteln, die den Tagesablauf schildern, jeweils das Zentrum der drei Teile der Aufzeichnungen des Jünglings. Jedes Mal folgen auf diesen zentralen Tag weitere Tage, die sich direkt anschließen und weniger ausführlich beschrieben werden: zwei in Teil eins, drei in Teil zwei, vier in Teil drei. Es sei daran erinnert, dass Dostojewskij diesen Roman von Februar 1874 bis November 1875 niederschrieb, so dass wiederum, nämlich wie im Fall von Verbrechen und Strafe , Der Idiot und Böse Geister , ein Gegenwartsroman im engsten Sinn vorliegt.
    Der Brief
    Nun zur Handlung: Sie wird, wie bereits erwähnt, in der Ich-Form von einem Zwanzigjährigen erzählt. Um dem unheroischen Jüngling, der zwischen glühendem Stolz und tiefster Selbstverachtung hin- und hergerissen wird, die stete Aufmerksamkeit zentraler Bezugspersonen zu sichern, versah ihn Dostojewskij mit einem Brief, eingenäht in sein Jackett, von der ungeduldigen Hand einer attraktiven jungen Frau geschrieben, den ihm verschiedene Parteien, und vor allem die Schreiberin selbst, abzujagen trachten. Der neunzehnjährige Jüngling besitzt mit diesem schriftlichen Unterpfand der Bosheit der Welt eine Art Eintrittskarte in die Arena der Erwachsenen.
    Der zu Bewusstsein erwachende Arkadij sieht sich mit seiner Ankunft in Petersburg (drei Wochen vor Beginn des Romans) ringsum in Vorgänge hineingezogen, deren Anfänge er nicht miterlebt hat und erraten muss. Sein Eintritt in die Welt, die ihm normalerweise mit Gleichgültigkeit gegenüberstehen würde, wird also von Dostojewskij durch

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