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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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das »Dokument« mit einem Intrigenkapital versehen. Was aber ist das für ein Brief, der den Spannungsbogen der Haupthandlung trägt?
    Katerina Achmakowa, die weibliche Hauptperson des Romans, Generalswitwe und Fürstentochter, hat mit diesem Brief, gerichtet an den Juristen Alexej Andronikow, um Auskunft gebeten, wie sie ihren verwitweten Vater, den Fürsten Nikolaj Sokolskij, ohne Skandal entmündigen lassen könne, da er beträchtliche Geldsummen verschwende und sich mit neuen Heiratsgedanken trage. Diesen Brief hatte der Jurist Andronikow, kurz vor seinem vorausgefühlten Tod, seiner Nichte und Pflegetochter Marja Iwanowna übergeben, weil er ihn nicht in seinem Nachlass vorgefunden wissen wollte. Über Marja Iwanowna gelangt nun dieses kompromittierende »Dokument« in die Hände des Jünglings Arkadij Dolgorukij. Trotz intensivster Nachforschungen gelingt es Katerina Achmakowa nicht, mit Sicherheit herauszufinden, wo sich ihr Brief befindet, und Arkadij verschafft das Bewusstsein, geheime Macht über eine schöne junge Frau zu besitzen, tiefste Genugtuung.
    Teilhabe an der Welt, so konstruiert Dostojewskij, heißt Teilhabe an der Korruption der Welt. Aus dem Besitz des Briefs bezieht Arkadij die Gewissheit, anderen etwas zu bedeuten. Er sieht, dass er genau in dem Maße etwas wert ist, wie andere sich von ihm abhängig fühlen, ohne unbedingt von ihm abhängig zu sein. Damit aber begibt er sich, wie er erfahren muss, in das »Räderwerk der Fakten«. Katerinas Brief wird Arkadij nämlich von seinem ehemaligen Schulkameraden Maurice Lambert, der sich inzwischen zu einem gewerbsmäßigen Gauner entwickelt hat, heimtückisch entwendet. Die Pointe der Haupthandlung besteht darin, dass Lambert versucht, mit diesem Dokument Katerina Achmakowa zu erpressen, was ihm aber nicht gelingt, denn er wird dabei von Arkadijs Vater, Andrej Werssilow, niedergeschlagen. Das ist der Höhepunkt der letzten Szene des Romans.
    Die Schlussszene
    Diese letzte Szene verdient unsere besondere Beachtung, denn sie bringt die zentralen Bezugspersonen Arkadij Dolgorukijs auf engstem Raum zusammen: Andrej Werssilow, seinen leiblichen Vater, Katerina Achmakowa, die für Arkadij unerreichbare junge Weltdame, und Maurice Lambert, die dunkle Seite seines eigenen Ichs. Es fehlt aber in dieser Konstellation Arkadijs geistiger Vater, Makar Dolgorukij, der christliche Pilger, der zu Anfang des Dritten Teils stirbt. Seine Welt hat im gegenwärtigen Petersburg keinen Ort. Es ist die Welt des frommen Lebens, frei von materiellen Interessen, die Welt der christlichen Praxis, ohne Eigenliebe.
    Nun zur Analyse der letzten Szene des Romans, die die Hauptlinie der Handlung wie unter einer Lupe zusammenfasst. Schauplatz ist die enge Wohnung Tatjana Pawlownas. Werssilow und Lambert haben das Komplott ausgearbeitet – Werssilow aus Eifersucht, Lambert aus Geldgier. Lambert soll Katerina mit ihrem Brief erpressen. Werssilow versteckt sich im Nebenzimmer. Katerina sitzt auf dem Sofa, Lambert steht vor ihr und schreit »wie ein Narr«. Arkadij, der Ich-Erzähler, wird vom Dienstmädchen Marja ins Schlafzimmer Tatjana Pawlownas hineingelassen, »in denselben kleinen Raum, wo eigentlich nur ihr Bett Platz hatte (und von wo aus ich schon einmal gegen meinen Willen ein Gespräch belauscht hatte). Ich setzte mich auf das Bett und fand alsbald auch einen Spalt zwischen den Vorhängen, durch den ich in das Wohnzimmer sehen konnte.«
    Natürlich könnte man jetzt sagen: Die von Dostojewskij gewählte Ich-Form zwingt dazu, Arkadij Dolgorukij auf umständliche Weise zu postieren, damit er Zeuge wird, um berichten zu können. Kurzum: Hier klappert der erzähltechnische Apparat. Ein solches Argument wäre jedoch völlig verfehlt.
    Es gehört zur Eigentümlichkeit der hier gestalteten Sache, nämlich des pubertären Bewusstseins, dass die Welt wie durch einen Spalt zwischen den Vorhängen wahrgenommen wird. Es ist die Perspektive eines Heranwachsenden, der noch nicht dazugehört und doch mit dabei sein möchte, die Dostojewskij hier veranschaulicht und regelrecht ins Bild hebt. Arkadij Dolgorukij, der Neunzehnjährige, ist noch ein Zaungast des Lebens. Und auch das enge Zimmer hat emblematischen Sinn: Es ist das Bild der Isolation des Jünglings inmitten seiner Suche nach sozialer Anerkennung. Er sitzt allein in einem engen Zimmer und blickt durch einen Spalt in die Welt. Was aber sieht er dort? »Sein« Brief, d.h. der Brief Katerinas, mit dem sie sich selbst als

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