Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
sowohl Katerina als auch sich selber umbringen, was durch das Eingreifen Arkadijs verhindert wird. Arkadij wird vom stummen Zeugen zum entschlossenen, ja schreienden Helfer. Dreimal Bewusstlosigkeit, ausgelöst durch Katerinas Brief: Katerina, Werssilow und Lambert reglos am Boden.
Dostojewskij demonstriert so die Lebensunfähigkeit unsittlicher Maximen des Handelns. Arkadij erlebt hier seinen leiblichen Vater als Wahnsinnigen und, im Auftreten Lamberts, die Wirklichkeit seines im Verborgenen gehegten Gedankens, Katerina zu erpressen. Von den sieben Wirkungsfaktoren Dostojewskijs fehlt in dieser letzten Szene nur die Religion. Ihre Sphäre ist ganz an Arkadijs Begegnung mit Makar Dolgorukij geknüpft. Die anderen Wirkungsfaktoren aber liegen vor: Verbrechen, Krankheit, Sexualität, Politik, Komik und Spannung. Zum Mord allerdings kommt es nicht, und die Politik blitzt nur darin auf, dass der Schändlichste der Beteiligten, Lambert, Französisch spricht und Werssilow, der den Kontakt mit dem russischen Boden verloren hat, von einer Geistesstörung heimgesucht wird. Die Komik schließlich ist nur immanent da, indem gleich drei Personen bewusstlos zu Boden gehen und niemand ernstlich zu Schaden kommt.
Die gesamte Szene ist von extremer Melodramatik geprägt. Alle sind erregt. Es wird geschrien, geschlagen, gespuckt, in Ohnmacht gefallen, und es fließt Blut, wenn auch nicht mit tödlichem Ausgang. Alles auf engstem Raum. Das ist, blickt man mit Dostojewskij zurück, Boulevard-Roman à la Eugène Sue, und, blickt man voraus: Hollywood.
Man stelle sich nur folgende Besetzung vor: Arkadij Dolgorukij: Leonardo DiCaprio; Andrej Werssilow: Robert De Niro; Maurice Lambert: Gabriel Byrne; Katerina: Sophie Marceau. Regie: David Lynch. Hierzu ist Folgendes auszuführen. Hermann Hesse hat bereits 1915 davor gewarnt, die melodramatischen Elemente des Grünen Jungen , dieses Operieren mit Revolver, Gefängnis, Mord, Gift, Selbstmord, Wahnsinn, mit belauschten Verschwörungen und gemieteten Nebenzimmern, als Äußerlichkeiten zu verkennen. Was Hesse damals noch nicht sehen konnte, ist, dass vom englischen Schauerroman und französischen Boulevard-Roman eine direkte Linie zur Melodramatik des Hollywood-Films führt, die insbesondere im »film noir«, dessen Erbe David Lynch ist, unsere zeitgenössische Variante findet. Man denke an Lost Highway (1998) oder Mulholland Drive (2002). Grundsätzlich formuliert: Bewusstsein wird dort dadurch dargestellt, dass das Subjekt in einer Welt vorgeführt wird, die seinen Phantasien über diese Welt entspricht. Konkret gesprochen: Die Melodramatik des Grünen Jungen ist die Melodramatik des pubertären Bewusstseins, dem die Welt, in die es aufbricht, in auratischem Licht erscheint, eine Welt, regelrecht geschaffen dafür, von David Lynch auf die Leinwand gebracht zu werden. [96]
Erzähltechnik
Wenden wir uns nun einem anderen Zugang zu, der Erzähltechnik des Grünen Jungen . Dostojewskij arbeitet mit fünf Spannungsbögen. Mit Einsetzen des Romans werden vier davon gleichzeitig (!) entwickelt, wodurch es zu höchsten Ansprüchen an den Speicherungswillen des Lesers kommt:
(1) »Katerinas Brief« (hält alle drei Teile zusammen und dominiert den letzten);
(2) das Ereignis in Bad Ems zwei Jahre vor Einsetzen der Gegenwartshandlung (bleibt Wirklichkeit auf Widerruf über das Ende des Romans hinaus; im Mittelpunkt der Mutmaßungen steht Werssilows Verhältnis zu Katerina, die sich als das vitale Zentrum inmitten der Dekadenz des russischen Adels erweist);
(3) Arkadijs Biographie (stückweise eingebracht, liegt schließlich kohärent vor);
(4) »Stolbejews Brief« (beherrscht den Ersten Teil: Werssilow verzichtet auf eine Erbschaft);
(5) Arkadijs Schwester Lisa und ihre Liebesbeziehung zum Fürsten Sergej Sokolskij (der Wertpapiere gefälscht hat, dafür ins Gefängnis kommt und schließlich an einer Hirnhautentzündung stirbt; dieser Spannungsbogen beherrscht den Zweiten Teil).
Ganz besondere Aufmerksamkeit verdient Dostojewskis experimentelles Erzählen, was die Behandlung der Zeit betrifft. Von den fünf großen Romanen ist Ein grüner Junge als einziger in einer Ich-Form geschrieben, wobei der Ich-Erzähler gleichzeitig die Hauptgestalt ist. In dieser Hinsicht findet der Grüne Junge unter den übrigen Werken Dostojewskijs seine unmittelbaren Verwandten im Kurzroman Der Spieler (1866) und in der Erzählung Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864): Auch in ihnen sehen wir dem
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