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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Ich-Erzähler beim Schreiben zu, dem zunächst fünfundzwanzigjährigen Spieler und dem vierzigjährigen namenlosen Kellerlochmenschen. Nur im Grünen Jungen wird jedoch die Spannung zwischen erinnertem Ich und sich erinnerndem Ich formschaffend und wirklichkeitsschaffend wirksam. Die Situation der Niederschrift tritt während des gesamten Romans immer wieder derart in Erscheinung, dass die Auseinandersetzung des sich erinnernden Ichs des Zwanzigjährigen mit dem erinnerten Ich des Neunzehnjährigen einen Entwicklungsprozess belegt. Durch anschauliche Wiederholung zutiefst unerquicklicher Erlebnisse, die nur wenige Monate zurückliegen, wird die sittliche Selbstfindung des Ich-Erzählers vorbereitet, was weder für den Spieler noch für die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gilt. Der Spieler überwindet nicht seine Spielsucht, und der »Paradoxalist« des Kellerlochs bleibt ein unglückliches Bewusstsein.
    Darüber hinaus verdient im Grünen Jungen die Einbringung der Vorvergangenheit besondere Beachtung. Die historische Gegenwart zwischen dem 19. September und dem 14. Dezember wird streng chronologisch nacherzählt. Diesbezügliche Angaben zu Datum und Tageszeit durchziehen den gesamten Text. Die Vorvergangenheit aber, also die Zeit vor Einsetzen der »Aufzeichnungen« mit dem 19. September, wird nicht willentlich vergegenwärtigt, sondern immer nur dann, wenn innerhalb der historischen Gegenwart von ihr gesprochen wird oder ein Assoziationskontakt innerhalb der historischen Gegenwart eine unwillentliche Erinnerung, auslöst. Deshalb verteilen sich die Informationen über Arkadijs Biographie, seine Kindheit bei der Familie Andronikow, seine Schulzeit in der Pension Touchards und danach im Gymnasium, über den ganzen Roman. Während Arkadij beispielsweise Werssilow von den Jahren bei Touchard erzählt, macht er uns darauf aufmerksam, dass damals in Moskau der gleiche »scharfe Wind« geweht habe wie heute, und betont gegenüber Werssilow, dass er von Touchard ein ebenso enges Zimmer zugewiesen bekam wie das, in dem er jetzt wohne, mit einem ebenfalls »mit Wachstuch überzogenem Sofa« und einem »geflochtenen Stuhl«. Damit deckt Arkadij die Assoziationskontakte in der unmittelbaren, willentlich erinnerten historischen Gegenwart auf, die ihn an die Vorvergangenheit bei Touchard denken ließen. Später sind es die Kirchenglocken, die die Erinnerung an die »rote Kirche gegenüber Touchard« und den Besuch der Mutter heraufbeschwören.
    Man sieht: Dostojewskij lässt aus der willentlichen Erinnerung (Arkadijs Rekonstruktion der historischen Gegenwart) die damaligen unwillentlichen Erinnerungen hervorgehen, die durch ähnliche Gegenstände oder aufkommende Gesprächsthemen ausgelöst werden. Später wird Marcel Proust in seinem Hauptwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–27) zwischen mémoire volontaire und mémoire involontaire (ausgelöst durch eine »sensation identique«) unterscheiden. Dostojewskij hat bereits in seiner Erzählung Der ewige Gatte (1870) mit der mémoire involontaire gearbeitet, als er uns die Gedächtnisarbeit Weltschaninows vor Augen führte. Auch sind in solchem Zusammenhang die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) zu nennen, eine Erzählung in zwei Teilen, deren ganzer zweiter Teil eine Assoziation des Ich-Erzählers innerhalb der Gegenwartshandlung des ersten Teils ist: aus Anlass des »feuchten Schnees«, der über Petersburg herniederfällt wie ein Leichentuch und eine peinliche Erinnerung des Erzählers als mémoire involontaire heraufbeschwört, die sechzehn Jahre zurückliegt.
    Zweifellos ist Dostojewskijs Erzähltechnik bezüglich der Zeitbehandlung im Grünen Jungen äußerst komplex und erfordert, um nicht als Fehlen einer Ordnung verkannt zu werden, intensivste Aufmerksamkeit. In keinem anderen der fünf großen Romane gewinnt die Vorvergangenheit insgesamt eine derartige Kohärenz sowie speziell eine derart auf Enthüllung drängende Ausstrahlung wie das Ereignis in Bad Ems.
    Auch hat in keinem anderen der fünf großen Romane die Erzählsituation eine solch aufsässige und dabei dynamische Präsenz wie im Grünen Jungen .
    Solche Virtuosität in der gleichzeitigen Nutzung dreier Zeitebenen (Niederschrift, historische Gegenwart, Vorvergangenheit) hat allerdings ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern geht aus der Eigentümlichkeit der gestalteten Sache hervor, dem pubertären Bewusstsein. Dargestellt wird Gedächtnis unter der Herrschaft von Ehre und

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