Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
geldhungrig und skrupellos kompromittiert, hat nun in den Händen Lamberts die von Arkadij insgeheim gewünschte Wirkung. Der Brief stiftet Lambert dazu an, Katerina zu erpressen. Lambert aber ist, wie soeben bereits vermerkt, die dunkle Seite Arkadijs. Er tut das, was Arkadij selbst nur zu denken, aber nicht auszuführen wagt. Und so sehen wir in dem, was Arkadij durch einen Spalt beobachtet, die uneingestandene Innerlichkeit Arkadijs als Wirklichkeit. Die letzte Szene des Romans muss als kathartische Schlüsselszene angesehen werden. Arkadij erblickt als objektive Wirklichkeit, was in ihm selber als subjektive Wirklichkeit schlummerte. Wie ja auch Raskolnikow in Verbrechen und Strafe und Stawrogin in den Bösen Geistern mit einer Wirklichkeit konfrontiert werden, die ihren Wünschen entspricht. Dostojewskij geht prinzipiell so vor, seinen Helden dadurch zu belehren, dass das, was in diesem als Wunschwelt schlummert, zur Wirklichkeit wird. Man denke auch an Iwan und Dmitrij Karamasow sowie natürlich an Smerdjakow. Sie alle müssen plötzlich eine Wirklichkeit erblicken, die das Resultat ihrer Wünsche ist.
Und so sieht Arkadij Dolgorukij die von ihm mit Genugtuung registrierte erpresserische Macht des »Dokuments« plötzlich in der Wirklichkeit aktiv werden. Die Szene sieht wie folgt aus: Lambert steht vor Katerina, die im Wohnzimmer auf einem Sofa sitzt, er ruft laut und schrecklich erregt: »Dieser Brief kostet dreißigtausend Rubel, und Sie wundern sich noch! Er ist hunderttausend wert, und ich fordere nur dreißigtausend.« Er zeigt ihr ihren Brief, sie antwortet, sie habe kein Geld. Er droht mit einem Skandal. Sie droht, ihn anzuzeigen. Er will sie mit sexuellen Implikationen in die Enge drängen: »Vous êtes belle, vous!« Katerina erhebt sich hastig von ihrem Platz auf dem Sofa, wird feuerrot und – spuckt ihn an. Lambert reißt seinen Revolver hervor, packt sie, rasend vor Wut, an der Schulter und richtet die Waffe auf sie. Arkadij stürzt ins Zimmer.
In dem Moment steht plötzlich Werssilow im Zimmer, der sich im Vorzimmer versteckt hielt, entreißt Lambert den Revolver, schlägt ihn mit der Waffe über den Kopf. Lambert stürzt bewusstlos zu Boden.
Als Katerina Werssilow erblickt, wird sie kreidebleich, blickt ihn einen Augenblick lang in unbeschreiblichem Entsetzen an – und fällt in Ohnmacht. Werssilow, mit blutunterlaufenen Augen, stürzt auf sie zu, hebt sie auf, trägt sie im Zimmer hin und her, den Revolver dicht neben ihrem Kopf in der Hand. Arkadij will Trischatow zu Hilfe rufen, fürchtet aber, den »Wahnsinnigen« zu verärgern. Arkadij wörtlich: »Schließlich zog ich den Vorhang zur Seite, und beschwor ihn, sie doch auf das Bett zu legen. Er trat an das Bett und legte sie behutsam hin, blieb aber bei ihr stehen, sah ihr mit Spannung ins Gesicht, und plötzlich beugte er sich über sie und küßte sie zweimal auf die bleichen Lippen. Oh, ich begriff, endlich, daß dieser Mensch nicht mehr bei Sinnen war. Plötzlich holte er mit dem Revolver nach ihr aus, besann sich aber offensichtlich, drehte den Revolver um und richtete ihn auf ihr Gesicht. Im Nu hatte ich mit aller Kraft seinen Arm zurückgerissen und schrie nach Trischatoff. Ich weiß noch: wir kämpften zu zweit mit ihm, doch es gelang ihm, seine Hand freizubekommen und auf sich selbst zu schießen. Er hatte zuerst sie und dann sich erschießen wollen. Als wir sie ihm nicht überließen, richtete er die Mündung direkt auf sein Herz, doch konnte ich seine Hand nach oben stoßen und die Kugel ging ihm in die Schulter. In diesem Augenblick stürzte Tatjana Pawlowna mit einem Aufschrei ins Zimmer; doch er lag bereits bewußtlos auf dem Teppich, neben Lambert.« [95]
So endet die Schlussszene des Romans. Es folgen noch ein Epilog mit den Schicksalen der zentralen Gestalten und der kulturkritische Kommentar eines gewissen Nikolaj Semjonowitsch aus Moskau, dem Arkadij als seinem ehemaligen Erzieher sein Manuskript zugesandt hat.
Zu der hier so ausführlich referierten Schlussszene des Romans lässt sich Verschiedenes sagen. Zunächst einmal dies: Arkadij sieht hier das Prinzip des materiellen Egoismus scheitern. Und das gleich zweifach: Lamberts Erpressungsversuch scheitert an der Zivilcourage Katerinas. Seine Waffe wird von Werssilow gegen ihn selbst gewendet. Werssilow wiederum erlebt in der Konfrontation mit Katerina, die ihn nicht mehr anerkennen kann, seinen sozialen Tod: Er versinkt im Wahnsinn seiner Eifersucht und will
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