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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Scham.
    Bewusstseinsdarstellung
    Zur Erzähltechnik gehört auch die Bewusstseinsdarstellung. Dostojewskij selbst mutet uns folgende Überlegung zu. Sie findet sich in seinen Werkstatt-Notizen zum Grünen Jungen . Dort heißt es: »Auf diese Weise zeichnet sich der Typ des Jünglings ganz von selbst (sowohl durch die Ungeschicklichkeit im Erzählen als auch durch die Ansicht ›Wie schön ist doch das Leben‹; und auch durch den ungewöhnlichen Ernst des Charakters. […] Doch wie in den Geschichten Belkins Belkin selbst das Allerwichtigste ist, so wird auch hier vor allem der Jüngling dargestellt).« [97]  
    Wer Puschkins Buch kennt, der weiß: Belkin selbst kommt in den insgesamt fünf Geschichten des verstorbenen Iwan Petrowitsch Belkin überhaupt nicht vor. Er ist ja nur der Sammler dieser Geschichten, die ihm von verschiedenen, insgesamt vier Personen erzählt worden sind. Wie aber kann Dostojewskij dann sagen, in diesen Geschichten sei Belkin selbst das Allerwichtigste? Doch wohl deshalb, weil der Name Belkin für eine bestimmte Art von Literatur steht. Belkin ist das naive Bewusstsein, das sich an den psychologischen Unwahrscheinlichkeiten, an den Beschwörungen des Zufalls stillvergnügt erfreut. Belkin ist der Geist der Trivialliteratur, des Groschenromans, dessen Medium unsere Tagträume sind. Belkin – das ist der Kitsch-Mensch.
    In Analogie zu dieser Überlegung ist der Grüne Junge so zu lesen, dass mit allem, was uns erzählt wird, zuallererst das Bewusstsein des Ich-Erzählers dargestellt wird: hier ein pubertäres Bewusstsein, dem die Welt noch ein melodramatisches Ereignis ist. Arkadijs Bewusstsein, in das sich Dostojewskij hineinversetzt, um es für sich arbeiten zu lassen, hat immer schon über das Erzählwürdige entschieden. An der Selektion dessen, was überhaupt referierungswürdig ist, wird eine ganz bestimmte Subjektivität ablesbar, eine Subjektivität, die sich aufgrund ihrer Wünsche und Ängste in der Welt situiert. Dies wird durch jene Eintragung bestätigt, die sich an die soeben referierte Werkstatt-Notiz anschließt. Dostojewskij setzt seine sprunghaften Notizen mit der Bemerkung fort, dass die abergläubische Ergebenheit des Jünglings seinem Vater (Werssilow) gegenüber diesen in einem phantastischen Licht erscheinen lasse, »sozusagen in bengalischer Beleuchtung«. Damit liefert Dostojewskij das Stichwort nicht nur für die Aura Werssilows, sondern auch für die Aura Katerinas. Ja, das pubertäre Bewusstsein hat offensichtlich sein Hauptmerkmal darin, alle Welt in bengalischer Beleuchtung wahrzunehmen.
    Aber nicht nur die Selektion des Erzählwürdigen und das Licht, in dem es erscheint, gehen auf das Konto Arkadij Dolgorukijs: auch die »Ungeschicklichkeit im Erzählen«. Welche Zumutung an den Kunstverstand des Lesers, auch ungeschicktes Erzählen als Ausdrucksmittel wahrzunehmen! Das Prinzip Celare artem (d.h. die Meisterschaft verstecken) wird damit von Dostojewskij ins Äußerste vorgetrieben. Arkadij formuliert ständig ins Unreine, lässt, beherrscht von Scham, Ehrgefühl und Sehnsucht nach Anerkennung, durchgehend etwas zum Ausdruck kommen, das sich verrät, ohne dass es gesagt sein wollte. Auf diese Weise bringt Dostojewskij die Sprachlichkeit der Sprache ins Spiel. Alles Gesagte führt ein Ungesagtes mit sich, das von ihm präzise impliziert wird. Er lässt uns ein schreibendes Bewusstsein regelrecht bei der Arbeit, bei der Aufarbeitung und Verwindung seiner Vergangenheit beobachten. Das adäquate Ausdrucksmittel für ein solches Intentum ist die Ich-Form. Man beachte auch die geringe Erzähldistanz: ein knappes halbes Jahr. Arkadij Dolgorukij spricht von Dingen, die er noch nicht überwunden, noch nicht weggesteckt hat. Das Aufschreiben wird ihm auf natürliche Weise zur Selbstheilung. Ein traumatisiertes Ich spricht zu uns.
    Celare artem erwies sich als das Prinzip, nach dem Dostojewskij im Grünen Jungen vorgeht. Ja, Dostojewskij treibt dieses Prinzip auf die Spitze, indem er nicht nur die »Ungeschicklichkeit im Erzählen« dieses Ich-Erzählers als Ausdrucksmittel einsetzt, sondern die Memoiren des Zwanzigjährigen noch dazu mit einem Kommentar versieht, worin dessen ehemaliger Erzieher in Moskau, Nikolaj Semjonowitsch, zu Arkadijs Aufzeichnungen Stellung nimmt. Aus diesem Nachwort des Nikolaj Semjonowitsch, das die Form eines langen Briefes hat, zitiert Arkadij in Auszügen: »Ja, Arkadij Makarowitsch, Sie sind das Mitglied einer zufälligen Familie, im

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