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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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»Perspektive von unten« lässt ihn zum pikaresken Helden werden.
    Der Roman steht damit in der pikaresken Tradition, ist »pikaresker Roman« und damit Glied einer literarischen Reihe, die von Lazarillo de Tormes (anonym 1554) über Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus (1668), Lesages Gil Blas (1715–1735) bis hin zu Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1911–1954) reicht. Allerdings psychologisiert Dostojewskij dieses pikareske Muster, sieht es als Kennzeichen des pubertären Stolzes an, der Welt mit einem Hang zum Gaunerstückchen zu begegnen, ohne dabei jedoch in totale Gewissenlosigkeit abzustürzen. Arkadijs Exkursion in die Petersburger Unterwelt, sein Wunsch, Katerina zu erpressen, entstammt der Ohnmacht seiner pubertären Grundsituation.
    Anders gesagt: Das Jugendalter setzt, zeitlich begrenzt, den pícaro (spanische Bezeichnung für »Schelm«) im Menschen frei, der sich sein Glück auf eigene Faust erkämpfen möchte. Dostojewskij hat die natürliche Fusion von Adoleszenzroman und pikareskem Roman erspäht, wobei hinter dem pikaresken Muster das Schema der christlichen Lebensbeichte sichtbar ist, wie es Augustinus und Rousseau in ihren Bekenntnissen praktiziert haben.
    Psychosomatische Erschütterung
    Arkadij Dolgorukijs Aufbruch in die Welt vollzieht sich zwischen Tugend und Laster, zwischen der geistigen und der tierischen Natur des Menschen, konkret gesprochen: zwischen Makar Dolgorukij, dem russischen Pilger, zweiundsiebzig Jahre alt, und Maurice Lambert, dem französischen Gauner, zweiundzwanzig Jahre alt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes sind Andrej Werssilow, siebenundvierzig Jahre alt, und Katerina Achmakowa, eine »junge Person«, die Hauptfiguren: der leibliche Vater und die erträumte Geliebte. Mit beiden kommt es zu intensiven Gesprächen. Beide wollen aber nur, jeder für sich, auf eines hinaus: Arkadij zur Herausgabe des »Dokuments« zu bewegen. Die Gesprächssituation ist deshalb immer asymmetrisch, bleibt implizites Verhör.
    Und doch versucht der nach Anerkennung und Gegenliebe geradezu süchtige junge Mann dem Pseudogespräch jeweils eine authentische Substanz zu unterstellen. Vergeblich. Nun haben Pseudogespräche niemals eine positive Wirkung auf die psychosomatische Situation eines Betroffenen. Mit einem Wort: Dostojewskij, der unübertreffliche Meister in der Evokation des Unerquicklichen, führt uns seinen Helden in permanenter Selbstentfremdung vor, in physio-psychischen Sonderzuständen, die durch die für Dostojewskij typische Dehnung der Zeit wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar werden: Müdigkeit vom Laufen und Denken, fiebrige Ungeduld, Kopfschmerzen, Herzklopfen, nervöses Zittern.
    Der neunzehnjährige Arkadij wird vom »Wirbelsturm« der Ereignisse ruhelos durch Petersburg getrieben, gerät am Ende des Zweiten Teils an den Tiefpunkt seiner Lebensreise, als er im Spielklub des Diebstahls bezichtigt wird, sich vor die Tür gesetzt sieht und dann in der eiskalten Petersburger Nacht in völliger Einsamkeit auf der Straße einschläft, von seinem Schulkameraden Maurice Lambert aufgegriffen wird und schließlich bei seiner Mutter für neun Tage bewusstlos wird. Er sagt von den Tagen davor, die in die »Katastrophe« seiner »Krankheit« führten, dass sie seinen »Verstand« und sogar seine »Gefühle« entkräftet hätten: »Überhaupt muß ich darauf hinweisen, daß ich in der letzten Zeit vor der Katastrophe fortgesetzt mit Menschen zusammenkam, die so erregt und durcheinandergebracht waren, daß man sie alle für mehr oder weniger geisteskrank halten konnte, und ich glaube fast, daß ich von ihnen zwangsläufig angesteckt wurde.« Arkadij macht sich hier seinen eigenen Reim auf seine Krankheit, meint sogar, dass all die »krankhaften, rein physiologischen Empfindungen« eine Beschreibung gar nicht wert seien. Am Konnex zwischen Leib und Seele sieht Arkadij vorbei. In Wahrheit ist seine Krankheit eine psychosomatische Erschütterung, in der die gelebte Selbstentfremdung ihren Ausdruck findet.
    Der Grüne Junge ist eine geschriene Dichtung. Arkadij Dolgorukij gerät immer wieder außer sich. Dominiert von Ehre und Scham, fürchtet er ständig, verlacht zu werden, und schreibt sogar eine ganze Abhandlung über das Lachen. Der »Wirbelsturm« wird nur von der »Windstille« der Szenen mit Makar, dem Pilger, unterbrochen. Hier erlebt Arkadij, zeitenthoben, die Begegnung mit sittlicher Schönheit, eine Begegnung, die ihn für seine Zukunft, über

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