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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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die wir nichts erfahren, positiv ausrichtet. »Das alte Leben liegt schon weit hinter mir, und das neue hat erst kaum begonnen.« Damit schließt der Roman.
    Petersburg
    Verbrechen und Strafe und Ein grüner Junge sind unter den großen Fünf die Romane, deren Gegenwartshandlung ausschließlich in Petersburg spielt. In jedem der beiden herrscht eine bestimmte Jahreszeit: ein schwüler Sommer in Verbrechen und Strafe , ein kalter und nebliger Herbst im Grünen Jungen . Raskolnikow befindet sich bei Beginn der Gegenwartshandlung bereits »seit ungefähr drei Jahren« in Petersburg, ist also mit dem Milieu längst vertraut, während Arkadij Dolgorukij bei Beginn der Gegenwartshandlung erst seit einem knappen Monat in Petersburg ist.
    Seine vielfachen Streifzüge durch die unauslotbare Stadt bringen ihm deshalb immer neue Entdeckungen. Petersburg wird zu einem unbekannten Ozean , Arkadij selbst zu Kolumbus und Makar zum Anker . In keinem anderen Roman Dostojewskijs steht Petersburg in einem so umfassenden Sinn als Metapher für die »Welt«, für die vorgefundene Welt, in der bereits etwas im Gange ist, dessen Anfänge das in diese Welt aufbrechende Individuum nicht miterlebt hat.
    Während der Zimmersuche tut Arkadij einen Blick in die verschiedensten Petersburger Wohnungen: »ich war zerstreut, schlenderte ein paar Stunden durch die Straßen, sah mir auch fünf oder sechs möblierte Zimmer an, doch bin ich überzeugt, daß ich an zwanzig anderen vorbeigegangen bin, ohne sie zu bemerken. Zu meinem großen Kummer hatte ich nicht gedacht, daß es so schwer ist, ein Unterkommen zu finden, und das vergrößerte meinen Ärger beträchtlich. Alle Zimmer waren so wie Wasins, sogar bedeutend schlechter, und die Miete riesig hoch, das heißt im Vergleich zu meiner Berechnung. Ich hatte mir eigentlich nur einen Winkel gedacht, so groß, daß man sich gerade nur einmal umdrehen konnte in ihm, und als ich das äußerte, gab man mir mit Verachtung zu verstehen, dann müsse ich ›Winkelvermieter‹ aufsuchen und nicht zu ihnen kommen. Außerdem waren überall noch viele sonderbare Untermieter, neben denen ich mich allein schon wegen ihres Äußeren niemals hätte einleben können. […] sogar zugezahlt hätte ich, um nicht neben ihnen wohnen zu müssen. Da waren so sonderbare Herren ohne Röcke, nur in Westen und Hemdsärmeln, mit zerzausten Bärten und mit freien Manieren, die sehr neugierig zu sein schienen. In einem unglaublich kleinen Zimmerchen saßen ihrer ganze zehn beim Kartenspiel mit Bier, und nebenan sollte ich mieten. An anderen Stellen gab ich auf die Fragen der Zimmervermieter so unüberlegte Antworten, daß man mich verwundert ansah, und in einer Wohnung kam es geradezu zu einem Skandal.« [99]  
    Auch mit solch naturalistischer Beschreibung läßt Dostojewskij die Situation Arkadijs in der Welt allegorisch deutlich werden. Arkadij fühlt sich fremd, gehört nicht mit dazu und muss sich doch in dieser Welt einen Platz suchen. Das Giebelzimmer, das er endlich mietet, ist eng wie ein »Sarg«.
    Zu beachten ist, dass die handelnden Personen des Grünen Jungen sich wie zufällig am Ort der Handlung befinden. Arkadij ist bei Einsetzen des Romans am 19. September, wie schon erwähnt, erst einen knappen Monat in Petersburg. Sergej Sokolskij kommt am 18. September aus Berlin, Katerina Achmakowa am 19. aus Moskau. Lambert ist, als er Arkadij in der Nacht zum 18. November auf der Straße findet, erst einige Tage in Petersburg. Krafft kommt gerade aus Vilna. Olja und Darja sind erst drei Wochen in Petersburg. Der Pilger Makar findet sich unverhofft ein. Werssilow ist ruheloser Europawanderer und beraubt auch Sofja ihrer Sesshaftigkeit. Es ist Krafft, der die an solchen Kennzeichen ablesbare Grundsituation ausspricht: »Sie leben alle wie auf einer Bahnstation.« Von Tatjana Prutkowas Wohnung heißt es, sie sehe aus »wie das Innere eines Reisewagens«. All diese Angaben belegen den Verlust des festen Orts, der Behausung, des Obdachs.
    Die atmosphärische Dichte des Romans beruht zu einem beträchtlichen Teil auf der Systematik, mit der Dostojewskij die Topoi seiner dichterischen Landschaft auswählt. Sie sind es, die von der Phantasie des Lesers oft unabhängig von Charakteren und Handlung Besitz ergreifen. Die »Landschaft« des Grünen Jungen wird durch mehrere Topoi bestimmt: das enge Zimmer, die Kneipe, der dunkle Hausflur, der Spielsaal, die menschenleere nächtliche Straße. An keinem dieser Orte möchte man sich

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