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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Gegensatz zu den bei uns noch vor kurzem vorherrschenden Typen aus altem Stamm, die eine so ganz andere Kindheit und Jugend hatten als Sie.«
    Gemeint ist damit Tolstojs Trilogie Kindheit (1852), Knabenjahre (1854), Jugend (1857). Und nun folgen jene Überlegungen, die in der Dostojewskij-Forschung größtes Missverständnis ausgelöst haben: »Ich muß gestehen, ich möchte nicht einen Roman mit einem Helden aus einer zufälligen Familie schreiben müssen! Eine undankbare Arbeit und ohne schöne Formen. […] Aber solche ›Aufzeichnungen‹ wie die Ihren könnten, so scheint mir, einem künftigen Kunstwerk als Material dienen, für das künftige Bild einer unordentlichen, aber bereits vergangenen Epoche. Oh ja, wenn der Lärm des Tages sich legt und die Zukunft anbricht, dann wird ein künftiger Künstler sogar für die Darstellung von vergangener Unordnung und vergangenem Chaos schöne Formen finden. Und dann werden solche ›Aufzeichnungen‹ wie die Ihren von Nutzen sein und Material liefern – wenn sie nur aufrichtig sind, trotz all ihrer Chaotik und Zufälligkeit.« [98]  
    Man hat diesen Kommentar des Nikolaj Semjonowitsch tatsächlich als ernst gemeinten Selbstzweifel Dostojewskijs gelesen, als Zweifel Dostojewskijs an seiner Kompetenz als Künstler. Das Prinzip Celare artem blieb unerkannt.
    Denn: Dass Dostojewskij hier in der Maske einer fiktiven Person zu seinem eigenen Roman Stellung bezieht, lässt sich nur rechtfertigen, wenn man eine ganz bestimmte Unterscheidung trifft. Es geht in diesem Nachwort gar nicht um poetologische Sachverhalte, sondern um gesellschaftstypische. Nikolaj Semjonowitsch bewegt sich, ohne dass uns dies gesagt würde, im Horizont der Abhandlungen Friedrich Schillers Über Anmut und Würde (1793) und Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). Die vermissten »schönen Formen« sind gesellschaftliche Formen und haben mit der künstlerischen Bewältigung der Thematik im Sinne der »freien Schönheit« Kants nichts zu tun.
    Es wäre völlig absurd anzunehmen, Dostojewskij habe auch nur im Entferntesten gemeint, mit diesem Roman allein das Material für ein zukünftiges Kunstwerk bereitzustellen, das ein anderer zu schreiben hätte. Man darf dieses Nachwort nicht als Dostojewskijs Selbstreflexion verkennen. Zweifellos hat es die Vorbehalte gegenüber dem künstlerischen Rang dieses Romans befördert. Dass dieses Werk bis ins letzte Detail durchstrukturiert ist, blieb seinen Kritikern verborgen. Der vermeintliche Selbstzweifel Dostojewskijs an seiner Kunst ließ Unaufmerksamkeit und oberflächliche Lektüre legitim werden, zumal ja tatsächlich »Ungeschicklichkeit im Erzählen« als Ausdrucksmittel verwendet wurde. Gehen wir nun der tatsächlichen Formungsleistung Dostojewskijs noch weiter nach.
    Strukturen: zuständlich und dynamisch
    Dostojewskij entwirft das wirklichkeitsschaffende Bewusstsein seiner Hauptgestalt innerhalb zweier Kontexte. Da ist einmal die Zuständlichkeit des pubertären Bewusstseins, auf die hin das Ganze des Romans angelegt ist. Und da ist die Dynamik des zweiten Kontextes: mit Arkadij als exemplarischem Charakter der jungen Generation, deren Kennzeichen die Vaterlosigkeit ist. Das Jugendalter ist hier keine Durchgangsphase, auf die das dann ebenfalls gestaltete Erwachsensein folgen würde, sondern wird als Selbstwert, als eigenständige Lebensphase ernst genommen. Kein Entwicklungsroman liegt hier vor, sondern die Momentaufnahme der Pubertät als Krisensituation. Wir erfahren nichts darüber, was aus Arkadij Dolgorukij später geworden ist. Hierin hat Dostojewskijs Ein grüner Junge seine Modernität, hiermit hat er einen ausgezeichneten Platz innerhalb einer literarischen Reihe, die sich von Gustave Flauberts November (1842) über Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), James Joyce’ Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (1916) und Hermann Hesses Demian (1919) bis hin zu J. D. Salingers Der Fänger im Roggen (1951) verfolgen lässt.
    Diese Zuständlichkeit des pubertären Bewusstseins ist eingelagert in Dostojewskijs Analyse der gesellschaftlichen Situation Russlands im Prisma dieses Bewusstseins. Schauplatz der Gegenwartshandlung ist Petersburg. Petersburg ist für Arkadij die Welt, und diese Welt ist Russland gleichsam unter dem Mikroskop. Arkadijs Streifzüge durch die herbstliche Stadtlandschaft bringen ihn mit den verschiedensten Gesellschaftsschichten in Berührung. Seine

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