Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Gerichtsverhandlung stattfindet.
Man beachte, dass der Lakai altersmäßig ganz dem Intellektuellen zugeordnet ist, als dessen depravierte Doppelung. Der depravierte Teil des Menschen ist, um wirklich werden zu können, auf den Intellektuellen angewiesen und wird, nach dem Vollzug des Verbrechens, vom Teufel wieder einkassiert, so dass nur »Dmitrij« belangbar bleibt.
Es sollte nicht übersehen werden, dass all die Indizien für Dmitrijs Täterschaft nicht willkürliche Zuschreibungen sind, ausgeheckt von der Anklage, die einen Täter braucht, sondern insgesamt auf Bekundungen Dmitrijs selber beruhen! Das Aufgreifen des Mörserstößels, die Äußerungen gegenüber dem Kutscher, der Dmitrij nach Mokroje bringt, sind ja Handlungen der Freiheit. Selbst der Irrtum des Dieners Grigorij, aufgrund dessen die Verurteilung Dmitrijs schlechthin unanfechtbar wird, hat die von Dmitrij selbst provozierte Erwartungsintention Grigorijs (»Vatermörder!«) zum Hintergrund. Nicht von ungefähr trägt Grigorij den Nachnamen Kutusow. Seine Funktion als Werkzeug des Weltgeistes ist für die Brüder Karamasow (1880) genauso entscheidend wie die seines einäugigen Namensvetters für Krieg und Frieden (1869). Mit einem Wort: Die Aufweisung der Indizienkette durch den Staatsanwalt, dessen Sicht von den Geschworenen bestätigt wird, ist auf der allegorischen Ebene nichts anderes als die vollständig richtige Ermittlung der Maxime, von der Dmitrijs Verhalten getragen wird. Dmitrij wird als Repräsentant einer bestimmten Maxime des Handelns schuldig gesprochen. Und diese zeigt sich unverfälscht in den von ihm selber geschaffenen Indizien. Es wird Dmitrij ja nicht eine Fremdexistenz unterschoben wie Alfred Hitchcocks Falschem Mann ( The Wrong Man , USA 1957). Nichts ist verfehlter als die in der bisherigen Forschung so oft gehörte Behauptung, Dostojewskij habe in den Brüdern Karamasow den Indizienbeweis verhöhnen wollen. Wenn Dmitrij angesichts der Beweiskette des Staatsanwalts, die in der Erwähnung der von Grigorij, dem Diener, zur Unzeit offen gesehenen Tür gipfelt, ausruft: »Gott ist gegen mich!«, so heißt dies, übersetzt in die Sprache des allegorischen Bildes: Die Wirklichkeit des wirkenden Gewissens hat mich, Dmitrij, schuldig gesprochen.
Es sei also festgehalten: Auf der allegorischen Ebene, auf der der innere Gerichtshof im Menschen gestaltet wird, vor dem sich »seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen« (Kant), wird die Komponente Dmitrij vom inneren Richter, den Geschworenen, nach der Strenge des Rechts schuldig gesprochen. Von einem Justizirrtum kann auf der allegorischen Ebene keine Rede sein, denn verantwortlich für das Faktum des Verbrechens ist, wie sich zeigen ließ, allein Dmitrij! Auf der allegorischen Ebene ist auch neu zu durchdenken, was es heißt, wenn der Verteidiger ein »gemietetes Gewissen« ( nanjataja sovest’ ) genannt wird. Der Verteidiger kann hier gar keine eigene Wahrheit anbieten, sondern hat lediglich die Aufgabe, die Argumente der Anklage zu destruieren. Die Pointe der allegorischen Sicht besteht gerade darin, dass sich in der völligen Taubheit der Geschworenen gegenüber der Täterschaft Smerdjakows und der Mitschuld Iwans eine echte Hellhörigkeit gegenüber der tatsächlichen Verantwortung Dmitrijs ausspricht. Nicht für eine »Gedankensünde« wird Dmitrij verurteilt, sondern für die faktische Erwirkung des Verbrechens.
Die realistische Lesart
Nun wäre es zweifellos unbefriedigend, wollte man die Interpretation der Brüder Karamasow auf die Herausarbeitung solcher Allegorik beschränken. Dostojewskij hat keine explizite Allegorie, sondern einen »realistischen« Roman geschrieben. Und auf dieser realistischen Ebene wird uns, was niemand leugnen kann, ein handfester Justizirrtum geschildert. Im fiktionsimmanenten Bereich triumphiert die einzigartige Raffinesse Smerdjakows, der den alten Karamasow in kältester Mordgier umbringt, alle drei Söhne in schwerste Existenzkrisen stürzt und aus der Ferne erlittenen Weltverlustes das von ihm betriebene Geschehen mit wachsten Sinnen verfolgt, bis zu seinem selbstgewählten Ende, das, in allen Konsequenzen wohlbemessen, noch Bestandteil seines heillosen Planens ist und dieses krönt.
In der Verfehlung des wirklichen Täters durch das mit höchster Exaktheit arbeitende Gericht hat der Roman seine fiktionsimmanente Pointe. Dmitrij wird zu Unrecht schuldig gesprochen. Hier, im fiktionsimmanenten Bereich, kann nicht die Rede davon
Weitere Kostenlose Bücher