Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
Vom Netzwerk:
sein, dass Alexej, Iwan, Dmitrij und Smerdjakow Komponenten einer einzigen Persönlichkeit sind. Hier klagt der Staatsanwalt zu Unrecht an und sucht der Verteidiger zu Recht Dmitrij voll zu entlasten. Der Teufelskreis der Indizien, die sämtlich gegen Dmitrij sprechen, belegt hier nichts anderes als die Tücke des Wirklichen, das sich jederzeit gegen den Einzelnen stellen kann. Ja, Dostojewskij setzt einen Akzent nach dem anderen, um uns gegen das Geschehen vor Gericht einzunehmen. Man vergegenwärtige sich nur die Schilderung der Geschworenen: ausdrucksgehemmt, von provinzieller Engstirnigkeit und der Unbildung ihrer Klasse und Schicht rettungslos infiziert, sitzen sie da, kaum fähig, das Vernommene zu verarbeiten; durch ihre deutsche Kleidung, so lässt Dostojewskij hervorheben, sehen zwei der Kleinbürger unter ihnen »noch schmutziger und unansehnlicher« aus als die übrigen vier. Die Atmosphäre im Gerichtssaal wird mit Horrorqualitäten von wahrhaft goyaesken Dimensionen ausgestattet. Der Staatsanwalt, so hebt der Chronist hervor, sehe auffallend blass aus, »ja beinahe grün im Gesicht, das aus irgendeinem Grunde vielleicht in einer Nacht plötzlich abgemagert war«, vom Verteidiger heißt es, sein Gesicht wäre angenehm gewesen, »wenn nicht die Augen, die an sich schon klein und ausdruckslos waren, so nahe beieinander gestanden hätten, daß nur der dünne Knochen seiner länglichen schmalen Nase sie trennte. Mit einem Wort, diese Physiognomie hatte etwas auffallend Vogelartiges an sich, das einen betroffen machte.« Unser Wille zur Einfühlung trifft hier auf das zutiefst Widerständige: den Kadaver und das Tier.
    Was scheint unsinniger, als dass aus der debilen Reglosigkeit dieser Geschworenen die Stimme des inneren Richters spreche, der stets ein Herzenskündiger (Kant) ist! Will uns Dostojewskij nicht allein durch die Beleuchtung der Gerichtsszene nahelegen, dass wir es hier mit einer Stätte der reaktionären Blindheit, des Vorurteils, der arroganten Einsichtslosigkeit zu tun haben, deren bedauernswertes Opfer Dmitrij ist?
    Gewiss, die dem Gericht vorliegenden Fakten in der Mordsache Karamasow haben ihre eigene Überredungskraft. Bei näherem Hinsehen wird überraschend deutlich, dass, trotz der von implizitem Spott getragenen Präsentation der gerichtlichen Ermittlungen durch den Chronisten, dem Gericht keinerlei Fahrlässigkeit bei der Auswertung der verfügbaren Fakten vorgeworfen werden kann. Die Wirklichkeit wird von Dostojewskij derart angelegt, dass sie sich der Deutung durch die »Psychologie« jederzeit widersetzen kann. Staatsanwalt und Verteidiger bezichtigen sich gegenseitig des künstlerischen Spiels, des bloßen Dichtens! Es kommt Dostojewskij darauf an, dass das Unrecht an Dmitrij ein notwendiges Unrecht ist, nicht von einer abschaffbaren Uneinsichtigkeit der an der Verurteilung beteiligten Personen diktiert wird. Es entsteht so für diejenigen, die die Wahrheit wissen und sehen, nämlich für Alexej, Iwan, Dmitrij und Smerdjakow, die unverrückbare Einsicht in die Notwendigkeit des Justizirrtums. Die Wirklichkeit ist offensichtlich zu Konstellationen fähig, die zu inadäquater Sinngebung zwingen. Zweifellos lag Dostojewskij daran, das Urteil der Geschworenen als unanfechtbar zu gestalten. Das heißt: Das Urteil der Geschworenen durfte nicht die Unzulänglichkeit einer abschaffbaren und im Grunde ridikülen Verfahrensweise demonstrieren, sondern: Dmitrij hatte in den Zugriff einer zufälligen Notwendigkeit zu geraten. Das bedeutet: Jeder einzelne Umstand, der für Dmitrijs Schuld spricht, kam rein »zufällig« zustande und würde, für sich allein genommen, nicht ausreichen, um das schließliche Urteil zu fundieren, dennoch zeigt sich in der Verfassung des Ganzen der »Beweise« die Notwendigkeit, Dmitrij für den Täter zu halten. Die Logik dieser Notwendigkeit besteht darin, dass alle Indizien der Schuld Dmitrijs Resultat seiner tatsächlichen Gesinnung sind.
    Und an dieser Stelle nun hält Dostojewskij eine unglaubliche Provokation bereit: Dmitrij nimmt das Fehlurteil an! Ja, nicht nur das: Alexej unterstützt ihn darin, und in Iwan findet ein entsprechender Gesinnungswandel statt. Man darf nicht vergessen, dass Iwan die Vorbereitungen für die Flucht Dmitrijs lediglich in der Überzeugung getroffen hat, dass Dmitrij der wirkliche Mörder sei.
    Solches Sichschicken ins Unabwendbare mag nun tatsächlich wie eine »Aussöhnung mit der Wirklichkeit« aussehen, wie ein masochistischer

Weitere Kostenlose Bücher