Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Verzicht auf das Recht auf Strafe ist, so gibt uns Dostojewskij zu verstehen, ein Absinken in Gestank ( smrad ) und Tod ( smert’ ). Da die Welt Dostojewskijs als sittliche konzipiert ist, ist der sittliche Selbstmord identisch mit dem »physischen«.
Es ist hervorzuheben, dass der innere Gerichtshof im Menschen keine Strafe verhängt, sondern lediglich das Maß der Schuld festsetzt. Die Verhängung einer Strafe ist Sache des staatlichen Gerichts. Es ist allerdings leicht einzusehen, dass das staatliche Gericht niemals für sich zum selben Resultat gelangen wird wie das innere Gericht, denn der Sachverhalt ist ja dem staatlichen Richter grundsätzlich anders zugänglich als dem inneren Richter. Noch wesentlicher aber ist, dass das staatliche Gericht mit der Verurteilung eines ermittelten Täters etwas anderes im Sinne hat als das innere Gericht. Die Verurteilung durch den Staat impliziert ja die Bestrafung und wendet sich offenbar ausdrücklich an den Smerdjakow im Täter, besser: sieht in jedem Täter nur einen Smerdjakow, der entsprechend schmerzlich zu treffen und sicherzustellen sei. In der Diskussion zwischen Iwan und Sossima über »Staat« ( gosudarstvo ) und »Kirche« ( cerkov’ ), nämlich über die öffentliche Gerechtigkeit und die innere Gerechtigkeit, wird, was hier zur Unterscheidung ansteht, expliziert.
Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen lässt sich jetzt folgendes Fazit formulieren: Dostojewskij bringt auf der realistischen Ebene der Brüder Karamasow das Urteil des staatlichen Gerichts in eine wirkliche Entsprechung zum Urteil des inneren Gerichts im Menschen. Die Wirklichkeit des Gewissens wird für einen Moment identisch mit der Wirklichkeit des Staates, so zwar, dass der Staat dies nicht bemerkt, denn sein Gericht ist ja bis auf alle Zeit davon überzeugt, dass Dmitrij der wirkliche Täter sei. Durch Zufälle wird Dmitrijs Maxime des Handelns für die öffentliche Gerechtigkeit straffällig. Einfacher ausgedrückt: Durch Zufälle hält man Dmitrij für den tatsächlichen Mörder und verurteilt ihn entsprechend. Durch diese Zufälle aber wird das staatliche Gericht in die Lage gesetzt, so zu verfahren wie das innere Gericht im Menschen.
Dabei ist aber Folgendes genau zu bedenken. Das Urteil des staatlichen Gerichts wird zwar für ein einziges Mal zur Deckung gebracht mit dem Urteil des inneren Gerichts, dennoch zeigt sich noch in solcher Deckungsgleichheit die grundsätzliche Verschiedenheit beider; denn, dies sei wiederholt: der Staat glaubt, wo er einen Täter verurteilt, stets, er habe es mit Smerdjakow zu tun, obwohl nur Dmitrij belangbar bleibt. Der Staat hält stets »Dmitrij« für »Smerdjakow«! Und in diesem Sinne ist jede seiner Verurteilungen ein »Justizirrtum«, nämlich eine Verkennung des Täters im Menschen! Insofern, und das ist äußerst wichtig, verhält sich das staatliche Gericht auch in diesem Fall so, wie es sich, ohne dies zu bemerken, immer verhält, wo es einen wirklichen Mörder schuldig spricht und bestraft. Der Staat bleibt, recht besehen, auch hier ganz er selbst und wird nicht, im Sinne Dostojewskijs, zur »Kirche«. An dieser Stelle gewinnt, wie man sieht, die negative Einschätzung der Gerichtsszene eine neue Berechtigung. Solche Wiedergewinnung des negativen Charakters des gerichtlichen Vorgehens steht aber ganz unter der Voraussetzung der gesehenen Positivität der allegorischen Bedeutung und bezieht überhaupt nur aus dieser ihre Bestimmtheit. Zum Exemplum dessen, was immer sich tut, wo die öffentliche Gerechtigkeit sich verwirklicht, kann die Gerichtsszene als »realistische« erst werden, wenn sie zuvor als das ihr inhärente Gegenteil, nämlich als »allegorische« verstanden wurde.
Von fiktionsimmanentem Standpunkt betrachtet, tritt also das staatliche Gericht wie das innere Gericht im Menschen auf. Zu dieser Erkenntnis kommen zweifellos sowohl Alexej als auch Iwan, Dmitrij und Smerdjakow. Und mit dieser Erkenntnis ist die Einsicht gekoppelt, dass alle drei Brüder zusammen mit Smerdjakow gemeinsam den Mord begehen, das heißt: wie eine einzige Person, zerlegt in vier Komponenten. Nur eine solche Sicht lässt verständlich werden, warum uns ernsthaft angesonnen werden kann, den Justizirrtum als echte Verwirklichung des Sittengesetzes zu akzeptieren. Der Schuldspruch der Geschworenen wiederholt die Verneigung des Starez Sossima vor Dmitrij, in der sich nicht nur tiefste Ehrfurcht vor einem erahnten Schicksal dokumentiert, sondern auch, nämlich
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