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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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Kotau vor dem, was ist. Dostojewskij scheint uns einen Akrobaten des Leidens vorzuführen. Niemand wird ernstlich leugnen wollen, dass der Gipfel moralischer Perversion erreicht ist, wo jemand die Strafe für ein Verbrechen annimmt, das er gar nicht begangen hat. Es scheint hier jene ausgesprochen libidinöse Verherrlichung des Leidens stattzufinden, die so sehr den Unwillen des sozialistisch orientierten Gorkij erregte. [107]   Dostojewskij Sachverhalt will aber eine solche Deutung gerade ausschließen.
    In gezielter Verkürzung lässt sich sagen, dass die realistische Ebene der Brüder Karamasow ihre Pointe zwar darin hat, uns einen unschuldig Verurteilten vorzuführen, der die völlig ungerechte und willkürlich über ihn verhängte Strafe als sein Schicksal annimmt. Was aber auf der realistischen Ebene das Unrecht eines Justizirrtums ist, wird auf der allegorischen Ebene zur gerechten Verurteilung der Komponente »Dmitrij«. Dostojewskij stellt also zwei Lesarten ein und desselben Sachverhalts her. Soll die allegorische Lesart dabei nur eine Wirklichkeit des Als-ob bleiben, ein bloß metaphysischer Trost? Die Frage ist zu verneinen. Wir haben hier nicht die Wahl zwischen einer realistischen und einer allegorischen Lesart.
    Mit einer strikten Trennung der beiden Bedeutungsebenen würde die wirkliche Intention des Romans verfehlt. Dostojewskij geht es um die Integration der allegorischen Lesart in den Kontext der realistischen Lesart. Solche Integration hebt dennoch, wie nun zu zeigen ist, das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Lesarten nicht auf.
    Die Integration der allegorischen Lesart in die realistische
    Um die Brüder Karamasow in rechter Weise zu verstehen, müssen wir die realistische Ebene mit ständigem Blick auf die allegorische betrachten. Dostojewskij versetzt die Allegorie vom inneren Gerichtshof im Menschen mitten in die Wirklichkeit. Das heißt: Die Prämissen, nach denen die realistische Ebene eingerichtet wird, sind identisch mit den Prämissen, nach denen die Allegorie eingerichtet wird. Die allegorische und die realistische Bedeutungsebene haben ein und dieselbe Anschauungsgrundlage. Wer versucht, die Brüder Karamasow ohne Kenntnis der allegorischen Ebene zu deuten, bewegt sich in einer Welt, in der die Anschauungen blind sind, da ihnen die Begriffe fehlen.
    Die von Dostojewskij gestaltete Welt gehorcht ganz dem Sittengesetz. Im allegorischen Bereich ist das leicht einzusehen. Der innere Richter verurteilt die gefährlichste Maxime des Handelns: denn würde die Haltung Dmitrijs zum allgemeinen Gesetz erhoben, so wäre damit die Wirklichkeit des Bösen vollendet hergestellt. Auf der allegorischen Ebene wird, so sagten wir anfangs, das Funktionieren des Gewissens veranschaulicht. Was auf der allegorischen Ebene geschieht, ist mithin ein Beispiel dafür, was in jedem Einzelnen auf der realistischen Ebene geschieht, sobald er sich dem mahnenden und richtenden Gewissen ausgesetzt sieht.
    Auf dem Hintergrund der nun geleisteten Explikation bedeutet dies: Wir haben uns vorzustellen, dass in jedem Einzelnen die Komponenten »Alexej«, »Iwan«, »Dmitrij« und »Smerdjakow« enthalten sind. Das heißt: Auch in Alexej sind, wo er als Individuum gefasst ist, nämlich auf der realistischen Ebene, alle vier Komponenten enthalten. In ihm selber ist jedoch die Komponente, deren Namen er trägt, dominant geworden. Dieselbe Überlegung ist entsprechend für Iwan, Dmitrij und Smerdjakow durchzuführen.
    Dostojewskij demonstriert uns auf der realistischen Ebene, dass der Mensch nicht fähig ist, den Schuldspruch des inneren Richters angesichts einer vollzogenen Untat auszuhalten. Unter dem Druck eines solchen Schuldspruchs gelangt der Schuldige entweder zum Selbstmord, oder er geht ins Ausland: beide Male wird die sittliche Welt verlassen. Ein Überleben innerhalb der sittlichen Welt ist nur möglich, wenn das Urteil des inneren Richters vom staatlichen Richter übernommen wird, das heißt: wenn der Schuldige die für sein Verbrechen vorgesehene Strafe zugemessen bekommt und annimmt.
    Indem Smerdjakow in jenem denkwürdigen dritten und letzten Gespräch mit Iwan die Beweisbarkeit seiner Tat regelrecht abgibt und damit auf die Möglichkeit der Strafe für immer verzichtet, scheidet er aus der Welt aus. Die Komponente in ihm, nach der er benannt ist, wird dominant. Das Dominantwerden der Komponente »Smerdjakow« bedeutet den sittlichen Selbstmord durch Abkehr von der Stimme des inneren Richters. Der

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