Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
solche Ehrfurcht überhaupt erst bedingend, die Einsicht, hier den wirklich Schuldigen vor sich zu haben. Rakitin kommentiert im Gespräch mit Alexej Karamasow die verblüffende Handlung des Starez Sossima folgendermaßen: »Meiner Ansicht nach ist der Alte tatsächlich hellsichtig: er hat ein Verbrechen gewittert. Es stinkt bei euch« (Buch II, Kap. 7). Dieses smerdit u vas müßte man allegorisch übersetzen mit: es »smerdjakowt« bei euch. Man beachte auch, dass Rakitin die Handlung Sossimas im weiteren Verlauf dieses Gesprächs, allerdings in dekuvrierender Absicht, als »Emblem, als Allegorie, und der Teufel weiß, was« bezeichnet ( eto, deskat’, emblema byla, allegorija, i čert znaet čto! ).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Dostojewskij eine Welt einrichtet, die in der Beurteilung des menschlichen Handelns ganz dem kategorischen Imperativ gehorcht; und zwar nicht nur im Bereich der Innerlichkeit jedes Einzelnen, der uns durch das fiktionstranszendente Bild vom inneren Gerichtshof veranschaulicht wird, sondern auch im realistischen Bereich, in dem sich das »weltliche« Schicksal vollzieht. Man darf nicht übersehen, dass die Beispiele, die Iwan gegen »Gott« geltend macht, sämtlich Beispiele für freiheitliches Handeln sind (Erschießung von Säuglingen, Misshandlungen etc.) und nicht etwa Krankheit, Unfälle oder Naturkatastrophen! Dostojewskij ist ausschließlich am sittlichen Menschen interessiert. Adornos Hinweis, Dostojewskij habe nicht den empirischen, sondern den intelligiblen Menschen gestaltet, trifft das Wesentliche. [108] Zweifellos ist Dostojewskij mit realistischer Psychologie nicht beizukommen. Nicht die Gedankensünde wird an Dmitrij bestraft, sondern: sein Anteil am Wirklichen, nämlich an der Ermordung seines Vaters wird realistisch, und das heißt hier »maximengerecht«, abgeschätzt. Dmitrij akzeptiert die Strafe nicht als Hereinbrechen eines zufälligen Übels, sondern als insgeheim gerechte Ahndung seiner objektiven Rolle in jener Ereigniskette, deren Resultat die Ermordung seines Vaters ist. Nicht, dass Dmitrij Unrecht erträgt, macht sein Leiden aus, sondern dass er Recht erträgt. Das Recht zeigt sich für Dmitrij in der Form des Unrechts. Das heißt: Die realistische Pointe bleibt auch jetzt voll in Kraft. Das höchste Recht ist hier höchstes Unrecht.
Man darf feststellen, dass sich Dostojewskij mit der Veranschaulichung der Wirklichkeit des wirkenden Gewissens ganz auf dem Boden der Kantschen Metaphysik der Sitten befindet. Die denkbare Möglichkeit, dass sich die Beurteilung des menschlichen Handelns nach Maßgabe des kategorischen Imperativs institutionalisierte und damit öffentlich würde, wird für einen Moment Wirklichkeit – allerdings so, dass die Realisation solcher Vorstellung Zufall bleibt, wenn auch mit allen Implikationen eines verbindlichen Lehrbeispiels.
Indem so eine Welt vorliegt, in der sich die Wirklichkeit des Gewissens im Bereich der öffentlichen Gerechtigkeit wiederholt, zeigt sich der ungemein harte, wenn nicht sogar grausame Anspruch des Sittengesetzes selbst hier, wo das Strafmaß nicht, wie bei Kant, vom »Wiedervergeltungsrecht« bestimmt wird, das für Mord die Todesstrafe vorsieht. Andererseits sieht Dostojewskij die Unmöglichkeit eines Verzichts auf das Sittengesetz voll ein. Um die Welt, die bei der Beurteilung des menschlichen Handelns dem kategorischen Imperativ aufgrund ihrer Prämissen »wirklich« zu gehorchen hat, überhaupt ertragbar zu machen, führt Dostojewskij den christlichen Gedanken ein, die Realität nämlich des Erlösers, der gerade durch die uneingeschränkte Bejahung des Sittengesetzes zum abgründigsten Mitleid mit denen fähig ist, die von diesem unerbittlich betroffen sind. Die Orientierung Dmitrijs am Exemplum Christi hat ihren Grund darin, dass Dmitrij Recht erleiden muss, das notwendig das Aussehen des Unrechts hat.
Eine rechte Deutung der Brüder Karamasow hat also die zweifache Pointe des Ausgangs der Geschichte auf einen Boden zu stellen, der die Integration der allegorischen in die realistische Lesart gestattet, ohne die Differenz zwischen beiden aufzulösen. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die angemessene Formulierung dessen, was auf der realistischen Ebene des Romans als Problem sich stellt, nur möglich wird, wenn die allegorische Lesart unablässig präsent bleibt. Die bisherige Forschung ist zur allegorischen Lesart nicht vorgedrungen und konnte deshalb, bei nicht unrichtigen
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