Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Teilergebnissen, die allen sichtbare realistische Ebene des Romans grundsätzlich nur »oberflächlich« behandeln.
Zwischenbemerkung
Es darf über der Feststellung, dass Dostojewskij mit der Darstellung der Wirklichkeit des wirkenden Gewissens ganz auf dem Boden der Metaphysik der Sitten steht, die Verschiedenheit der Kantschen und Dostojewskijschen Ethik nicht aus dem Blick verloren werden. Gewiss, die hier angestellten Überlegungen haben ihr Ziel einzig in der Interpretation der Brüder Karamasow und beschränken sich dazu auf die Erörterung der Vorstellung vom Gerichtshof im Inneren des Menschen. Dabei wurde aber schon sichtbar, dass Kant und Dostojewskij trotz der Übereinstimmungen in der »Tugendlehre« zu keiner gemeinsamen »Rechtslehre« finden können. Solche Verschiedenheit entspringt jedoch einer gemeinsamen Grundlegung. Kant wie Dostojewskij versuchen, die innere Gerechtigkeit, die ganz am kategorischen Imperativ orientiert ist, und die öffentliche Gerechtigkeit zueinander in eine grundsätzliche Beziehung zu setzen. Beide Male bleibt der Versuch, so darf man sagen, eine ideale Projektion.
Dostojewskij fordert, die öffentliche Gerechtigkeit müsse sich selber aufheben und zur inneren Gerechtigkeit werden: der »Staat« hört dann auf zu existieren, weil er zur »Kirche« geworden ist, und alle Strafe wird überflüssig. Solange solcher Zustand nicht erreicht ist, und er wird nur am Ende aller Zeiten erreicht werden, gilt es, das Faktum der Strafe als Möglichkeit der Sühne und damit als Voraussetzung für die Rückgliederung des Verbrechers in die Gemeinschaft aufzufassen, die er durch sein Verbrechen verlassen hat.
Kant hingegen hält die absolute Notwendigkeit der Strafe für unabweislich: die öffentliche Gerechtigkeit habe sich ganz nach dem »Wiedervergeltungsrecht« (ius talionis) zu richten, denn nur dieses kann »die Qualität und die Quantität der Strafe bestimmt angeben«. Und: »wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben«. Man beachte, dass dieser Satz zur Begründung der Strafe geäußert wird. Das Strafgesetz, so erläutert Kant, ist ein kategorischer Imperativ: Strafe darf niemals zum Nutzen von irgendjemand, auch nicht zum Nutzen der Menschheit verhängt werden, sondern einzig, weil der Verbrecher verbrochen hat; und das Strafmaß bestimmt sich aus der Art des Verbrechens »proportionierlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher«. [109] Wer gemordet hat, muss sterben.
Mit einem Wort: Die Differenzen zwischen Dostojewskij und Kant auf dem Gebiet der »Rechtslehre« sind konträre Lösungen ein und desselben Problems, zwei radikale Antworten nämlich auf die Frage, ob sich innere und öffentliche Gerechtigkeit auf dem Boden einer Metaphysik der Sitten in ein festes Verhältnis bringen lassen. In unserem Zusammenhang heißt das: Kants Menschenbild bejaht die Todesstrafe, Dostojewskijs Menschenbild verneint die Todesstrafe. Beide aber, Kant wie Dostojewskij, setzen den inneren Richter als gegeben voraus, dessen gnadenloser Schuldspruch die Realität des Gewissens ausmacht.
Im Hexenkessel der Indizien
Die Brüder Karamasow sind die Geschichte eines perfekten Verbrechens, das einen Justizirrtum zur Folge hat. Mit der rechten Einschätzung dieses Justizirrtums steht und fällt die Interpretation dieses letzten und wahrhaft gigantischen Unternehmens Dostojewskijs. In der dramatischen Geschichte von den Brüdern Karamasow, die gemeinsam, so müssen wir sagen, die Ermordung ihres Vaters bewirken, findet Dostojewskijs Faszination durch das Gewaltverbrechen ihren subtilsten und provozierendsten Ausdruck. Zentrales Problem ist die Frage nach den Möglichkeiten der Schuld und ihrer Aufrechnung in Strafe.
Dostojewskij ist neunundfünfzig Jahre alt, als er die Brüder Karamasow 1880 beendet. Noch im selben Jahr erscheint die letzte Folge des Romans im »Russischen Boten«, einer ausgesprochen konservativen Monatsschrift. Nur wenige Zeit später, im Januar 1881, stirbt Dostojewskij. Es fällt auf, daß er mit seinem letzten Roman in mehrfacher Hinsicht auf Verbrechen und Strafe zurückkommt, auf jenes Werk, mit dem er vierzehn Jahre zuvor die Reihe jener fünf großen Romane eröffnete, die das Zentrum seines Schaffens bilden. Nur noch in Verbrechen und Strafe (1866/67) hat sich Dostojewskij derart intensiv dem im weitesten Sinne »Detektivischen« verschrieben wie in den Brüdern Karamasow (1879/80). Zwar kennt auch der Idiot
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