Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Gerechtigkeit, der Einsiedelei als dem Ort des Sittengesetzes und dem Gerichtssaal als dem Ort des Strafgesetzes, steht die Handlung zunächst im Sog der Vorausdeutung und danach im Sog der Rekonstruktion. Die Vorausdeutungen münden sämtlich ins Dunkel, in das die Rekonstruktion Licht bringen soll.
Solches Vorgehen Dostojewskijs ist sehr kühn, denn es fordert vom Leser eine außergewöhnliche Gedächtnisleistung. Die Unsicherheit des Lesers über das, was im Dunkeln geschehen ist (Buch VIII, Kapitel 4), wird erst durch das Geständnis Smerdjakows gegenüber Iwan (Buch XI, Kapitel 8) beseitigt. Dass Dostojewskij den Leser so lange in Unwissenheit über den wahren Hergang der Tat hält, hat seinen Grund aber nicht nur in der Freude daran, Spannung zu vermitteln, sondern reproduziert den Verständnisprozess der drei Brüder Karamasow, die sich ja ebenfalls mit dem Sog der falschen Rekonstruktion des Geschehens am Tatort durch den Staatsanwalt konfrontiert sehen. Die falsche Rekonstruktion beginnt mit der »Voruntersuchung« (Buch IX) und gipfelt im »Justizirrtum« (Buch XII). Man beachte, dass der Verteidiger von Dmitrijs Täterschaft fest überzeugt ist. [112] Er verteidigt aber trotzdem, nämlich als »gemietetes Gewissen« (russ. nanjataja sovest’ ).
Vorausdeutung und Rekonstruktion fixieren Dmitrij Karamasow als den Täter. Durch solche Konstruktion lässt Dostojewskij die Gesinnung Dmitrijs wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar werden. Man darf nicht vergessen, dass ja sämtliche Indizien die Täterschaft Dmitrijs bezeugen. Sie sind die Faktizität seiner offen bekundeten Gesinnung. Der Schuldspruch der Geschworenen beruht nicht auf äußerlichen Zufälligkeiten, sondern ist die Folge der tatsächlichen Gesinnung Dmitrijs, deren unleugbare Spuren hier das unzerreißbare Netz der Indizien geknüpft haben. Auch die unwillentliche Falschaussage des Dieners Grigorij steht im Sog der von Dmitrij selbst bekundeten Mordabsicht. Dmitrij sieht sich also mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die das unmittelbare Produkt seiner Gesinnung ist. Und dass Smerdjakows Tat ganz die Handschrift Dmitrijs trägt, ist nur möglich, weil sich Dmitrij im Voraus zu dieser Tat bekannt hat. Man erwartet sie regelrecht von ihm.
Bezüglich der Architektonik der Brüder Karamasow ist jetzt festzustellen: Vorausdeutung und Rekonstruktion umlagern das Geschehen im Dunkeln. Im Dunkeln aber herrscht Smerdjakow. Es zeigt sich nun Folgendes. Smerdjakow wird uns, im Unterschied zu seinen Brüdern, immer nur aus der Sicht eines anderen präsentiert: hauptsächlich aus der Sicht Alexejs und Iwans. Alexej, Iwan und Dmitrij hingegen sind jeweils auf weiten Strecken des Erzählens das zentrale Bewusstsein, ungeachtet der Tatsache, dass Dostojewskijs Chronist ja durchgehend in der dritten Person erzählt. So ist etwa das detaillierte Geständnis Smerdjakows (Buch XI, Kapitel 8) ganz in den Erlebnishorizont Iwans eingelassen. Der Titel des Romans benennt also auch die drei zentralen Perspektiven des Erlebens. Denn Smerdjakow wird nicht von innen geschildert! Solche Formalie zeigt an, dass Smerdjakow, der Exekutor des bösen Wunsches, nicht von allein da ist, sondern nur wenn man ihn ruft und ihm die Rolle bereitstellt, in der er morden kann. Als Delegierter des Teufels hat Smerdjakow kein eigenes Sein, weil für Dostojewskij auch der Teufel kein eigenes Sein hat, sondern, um Realität zu haben, darauf angewiesen ist, dass der Mensch ihn herbeiwünscht.
Von Fjodor Karamasow zum Starez Sossima
Es sei daran erinnert, dass die zwölf Bücher der Brüder Karamasow in vier Teile gegliedert sind. Jeder Teil umfasst drei Bücher. Das Vermächtnis des Starez Sossima wird uns im Sechsten Buch zusammenhängend präsentiert: Sossimas Leben und Werk, aufgezeichnet »nach seinen eigenen Worten« von Alexej Karamasow. Sein Werk im engeren Sinne – das sind seine fixierten »Gespräche und Belehrungen«. Im weiteren Sinne aber muss auch seine »Biographie«, d.h. die Fixierung des von ihm gelebten exemplarischen Lebens, seinem Werk zugerechnet werden. Leben und Lehre bilden die Einheit seines Vermächtnisses.
Wenn das Sechste Buch das Vermächtnis des Starez Sossima enthält, dann heißt dies, dass Dostojewskij die positive Formulierung der anthropologischen Prämisse seines Romans genau in dessen Mitte rückt. Die erste Hälfte der Brüder Karamasow wird mit den »Gesprächen und Belehrungen« des Starez Sossima abgeschlossen.
Die Frage, die
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