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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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sich jetzt stellt, lautet: Wie sieht das Vermächtnis Fjodor Karamasows aus, des anderen Vaters, des leiblichen Vaters, der keines natürlichen Todes stirbt, sondern von seinem unehelichen Sohn ermordet wird, der daraufhin Selbstmord begeht? Antwort: Das Vermächtnis Fjodor Karamasows besteht in der Geschichte seiner Ermordung, die er durch seinen Lebenswandel selber provoziert. Diese Geschichte ist die Belehrung, die er hinterlässt: ein negatives Exemplum. Dostojewskijs Pointe: Fjodor Karamasow provoziert nicht nur seine Ermordung, sondern ist zudem der »Erzeuger« des Kollektivs seiner Söhne, das ihn ermordet. So ist also Fjodor Karamasow tatsächlich als der Urheber (auctor) der Geschichte von den Brüdern Karamasow anzusehen, weshalb ihm Dostojewskij ganz offensichtlich seinen eigenen Vornamen gegeben hat. Fjodor Michajlowitsch gibt damit das Copyright der Geschichte von den Brüdern Karamasow an Fjodor Pawlowitsch ab. Doch zurück zur innerfiktionalen Sache!
    Das Vermächtnis ihres leiblichen Vaters führt die drei Brüder Karamasow in jene Krise hinein, aus der sie das Vermächtnis ihres geistigen Vaters wieder hinausführt. Sie stellen sich der Konfrontation mit der Genese des Bösen, die sie selber, so konstruiert Dostojewskij, zu verantworten haben. Das Ausmaß dieser Verantwortung wird ihnen im Zwölften Buch klargemacht, das mit der Überschrift »Ein Justizirrtum« versehen ist. Die Einsicht in diese Verantwortung unterstellt sie dem Vermächtnis des Starez Sossima. So sehen wir dieses Vermächtnis, das als Sechstes Buch die erste Hälfte des Romans beschließt, im Zwölften Buch, das die zweite Hälfte des Romans beschließt, Wirklichkeit werden: als die sich ankündigende sittliche Selbstfindung der drei Brüder Karamasow. The Pilgrim’s Progress auf Russisch!
    Fjodor Karamasow ist also nicht nur der »Erzeuger« seiner vier Söhne, sondern determiniert sie auch im Grad ihres Vaterhasses. Das heißt: Er lässt sie zu jenem Kollektiv werden, das ihn ermordet und damit auf der mythischen Ebene Rache nimmt für den Frevel an ihren Müttern, insbesondere für den Frevel an der schwachsinnigen Lisaweta, der Mutter Smerdjakows, die, wie es bei Marcel Proust heißt, »ohne es zu wissen, das Werkzeug der Rache des Schicksals ist«, [113]   indem sie das Resultat ihrer Vergewaltigung im nächtlichen Garten ihres Vergewaltigers zur Welt bringt und noch bei Tagesanbruch stirbt. Fünfundzwanzig Jahre später wird Fjodor Karamasow das Opfer dieses Resultats. Er hat seinen eigenen Mörder in die Welt gesetzt und beherbergt. Dem Lauf der Dinge ist die Theodizee eingeschrieben. Man muss allerdings zu »lesen« wissen.
    Der zum Mord führende Vaterhass hat paradoxerweise sittliche Empörung zur Grundlage. Diese aber führt hier Iwan, Dmitrij und Smerdjakow in die Unfreiheit des verwerflichen Wunsches. Aus dieser Unfreiheit werden Iwan und Dmitrij durch sittliche Selbstfindung erlöst. Smerdjakow hingegen bringt sich um, und Alexej steht bereits zu Beginn des Romans in der Aura des Starez Sossima. So zeigt uns das Zwölfte Buch die drei Brüder Karamasow unterwegs zur Freiheit: sie überwinden das, zu was sie in Reaktion auf ihren leiblichen Vater geworden waren, und orientieren sich damit am Prinzip Sossima, das sie zur Anerkennung des lebendigen Lebens aufruft.
    Erneut sei betont: Solche Überlegungen wollen nichts anderes sein als die Gedanken eines Lesers, der das Inhaltsverzeichnis der Brüder Karamasow durchblättert, nachdem er den Roman soeben durchgelesen hat. Bei solchem Durchblättern springt natürlich der prozessuale Charakter des Geschehens sofort ins Auge. Wenn der »Tatort«, das Haus Karamasow, zwischen der »Einsiedelei« als dem Ort des Sittengesetzes und dem »Gerichtssaal« als dem Ort des Strafgesetzes liegt, so werden damit die ewigen Koordinaten des menschlichen Tuns kenntlich gemacht.
    Um die Architektonik der Brüder Karamasow nicht nur als abstrakte Form zu begreifen, muss der Titel des Romans als Etikett für eine dreifache Selbstfindung erfasst werden. Diese Selbstfindung wird als Loslösung vom leiblichen Vater und Hinwendung zu einem geistigen Vater veranschaulicht. Fjodor Karamasow ist dennoch der »Erzeuger« der Brüder Karamasow. Ohne ihn, dem die Lüsternheit das Lebensprinzip ist, gäbe es sie nicht. Und »Viehhofen« (russ. Skotoprigon’evsk ) hat Dostojewskij den Ort genannt, an dem die Brüder Karamasow spielen. Das Memento des Animalischen ist es, das den Geist erst zu sich

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