Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Karamasows stellt dann ihr Verhalten jenen Freiraum der Amoral her, den sich Smerdjakow zunutze macht; Alexej hält dem Starez Sossima die Treue, statt der Hüter seines Bruders Dmitrij zu sein; Iwan entfernt sich vom wahrscheinlichen Tatort nach Moskau, um dem Mörder seines Vaters freie Bahn zu lassen; und Dmitrij begibt sich, ungestüm, wie er ist, völlig unbedacht in der eindeutig bekundeten Rolle des Täters an den Tatort.
Wirklichkeit als Resultat gelebter Gesinnung
Nach der Ermordung Fjodor Karamasows sehen sich Alexej, Iwan und Dmitrij mit den Folgen ihrer Gesinnung konfrontiert, Folgen, die plötzlich als Tatbestand festgeschrieben sind. Man beachte das Grundsätzliche in Dostojewskijs Konstruktion. Alexej versäumt im Kloster die Möglichkeit, sich in der Welt zu engagieren, d.h., seinen Bruder Dmitrij von unbesonnenem Tun abzubringen. Dostojewskijs Vorwurf trifft den Mönch, der sich zugutehält, mit der Welt nichts zu schaffen zu haben. Iwan entfernt sich vorsorglich vom Tatort, um der erhofften Untat nicht im Wege zu stehen. Dostojewskijs Vorwurf trifft den Intellektuellen, der zwar gewissenlos anstiftet, sich selber aber aus dem Staube macht und danach so tut, als hätte er von allem nichts gewußt. Dmitrij begibt sich bedenkenlos in die Rolle des Täters, weil er seiner gerechten Empörung leidenschaftlich stattgibt. Dostojewskijs Vorwurf trifft in ihm den Soldaten, der sich im Namen der guten Sache zum Töten offen bekennt. So bringen Mönch, Intellektueller und Soldat, definiert von Dostojewskij, die Wirklichkeit des Bösen hervor. Smerdjakow ist in solcher Konstruktion der Lakai, das pure Werkzeug – vom Intellektuellen bereitgestellt, vom Soldaten in Gang gesetzt.
Angesichts des Tatbestands, der sich ihnen und uns, den Lesern, nur allmählich enthüllt, erkennen die drei Brüder Karamasow ihren jeweiligen Anteil an der nun unwiderruflichen Wirklichkeit des Bösen. Der Prozess der Selbsterkenntnis der drei Brüder Karamasow macht die Hauptsache des Romans aus, gegenüber der alles andere zur profilierenden Nebensache wird.
Es ist nun darzulegen, was diese Überlegung zum Verständnis der Architektonik der Brüder Karamasow beiträgt. Bis zum Kapitel »Im Dunkeln« (Buch VIII, Kapitel 4) führt uns Dostojewskij die Gesinnung der drei Brüder Karamasow ohne endgültiges Resultat vor. Dieses Resultat deutet sich zwar im Verhalten der Brüder bereits an. Es kommt aber erst im Dunkeln zustande, ohne uns jedoch, wie ich erläutert habe, an Ort und Stelle mitgeteilt zu werden. Nichtsdestoweniger ist die Gesinnung der Brüder im Dunkeln zur Wirklichkeit geworden. Und alle drei werden nun für den Rest des Romans mit dieser Wirklichkeit konfrontiert.
Was Dmitrij erlebt, erfahren wir aus der Sicht Dmitrijs, d.h. in der Reihenfolge, in der Dmitrij selber über das Geschehen am Tatort aufgeklärt wird. Die gleiche Überlegung gilt für Iwan und Alexej. Wir erfahren, was Iwans Anteil an der Wirklichkeit des Bösen betrifft, erst als Iwan selber über den wahren Hergang des Geschehens am Tatort durch Smerdjakow informiert wird (Buch IX, Kapitel 8). Alexej steht dem Geschehen am Tatort völlig fern. Ihm werden bestimmte Details seines Verhaltens gegenüber Dmitrij zu Indizien seiner eigenen Schuld, einer Schuld unterlassener seelischer Hilfe. In äußerster Formalisierung heißt das: Alexej sieht, was er versäumt hat; Iwan sieht, was er gefördert hat; Dmitrij sieht, was er ausgelöst hat. Anders ausgedrückt: Die Innerlichkeit der drei Brüder Karamasow ist im Dunkeln zur Außenwelt geworden, mit der sie in der Helle des Gerichtssaals öffentlich konfrontiert werden. Ins Grundsätzliche gewendet: Dostojewskij führt die objektive Wirklichkeit als Resultat gelebter Gesinnung vor Augen.
An dieser Stelle meiner Darlegung sei die Architektonik der Brüder Karamasow auf folgende Weise zusammengefasst. Die Gegenwartshandlung setzt ein mit der »Unziemlichen Versammlung« in der »Einsiedelei« (Buch II) und zeigt uns die drei Brüder Karamasow im Spannungsfeld zwischen den beiden Vätern Starez Sossima und Fjodor Karamasow. In zweifach gestalteter Reaktion auf ihren leiblichen Vater, zunächst in der Einsiedelei, dann in dessen Haus bei einem Gläschen Kognak (Buch III), enthüllen die drei Brüder jeweils ihre Welt und mit ihr ihre Gesinnung, die dann im Dunkeln Wirklichkeit wird und schließlich im Fadenkreuz des Strafgesetzes ins Licht der Öffentlichkeit tritt (Buch XII). Zwischen den beiden Orten der
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