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Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Dostojewskijs Entwicklung als Schriftsteller: »Vom Toten Haus« zu den »Brüdern Karamasow« (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst-Jürgen Gerigk
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selber kommen lässt.
    Die hiermit in ihren Grundzügen erläuterte Architektonik der zentralen Gegenwartshandlung der Brüder Karamasow blickt uns aus einem unendlichen epischen Kontext an. So beginnt der Roman, wie oben bereits angedeutet, mit einer Zusammenfassung der Vorvergangenheit, der »Geschichte einer Familie«, und so endet er mit dem Ausblick auf die Zukunft, die hier primär die Zukunft der Schuljungen ist. In der Selbstfindung der drei Brüder Karamasow deutet sich die Selbstfindung Russlands an, als das erfüllte Vermächtnis des Starez Sossima.
    Die Tür
    Wir gehen nun näher auf die Aussage des Dieners Grigorij Kutusow ein. Im Elften Buch gibt der Chronist drei lange Gespräche zwischen Iwan Karamasow und Smerdjakow wieder. Das dritte Gespräch enthält das Geständnis Smerdjakows. Smerdjakow erzählt dem nachdenklich lauschenden Iwan den wahren Hergang der Tat. Es heißt von Smerdjakow: »Als er mit dem Erzählen zu Ende war, war er sichtlich erregt und holte mühsam Atem. In seinem Gesicht war Schweiß zu sehen. Es ließ sich jedoch nicht erkennen, ob er Reue empfand oder irgend etwas anderes.«
    »Halt«, bemerkte Iwan nach einigem Nachdenken. »Und die Tür? Wenn er [nämlich Fjodor Karamasow] nur dir die Tür öffnete, wie konnte Grigorij sie dann früher offen sehen als du? Denn Grigorij hat sie doch früher offen gesehen als du?« [114]  
    Iwans Frage richtet sich auf ebenjene Einzelheit, die nun unsere ganz besondere Aufmerksamkeit beanspruchen soll. Hierzu seien die Hauptdaten des komplizierten Sachverhalts in Erinnerung gebracht.
    Dmitrij Karamasow nähert sich in dunkler Nacht dem Haus seines Vaters. Zuvor hat er im Haus der Morosowa, wo er von Fenja vergeblich den Verbleib Agrafena Swetlowas, genannt Gruschenka, zu erfahren suchte, einen Mörserstößel an sich genommen. Um das Besitztum seines Vaters ungesehen zu erreichen, klettert er aus einer einsamen und unbewohnten Gasse über den festen und hohen Zaun, der es umgibt. Vorsichtig schleicht er durch den stillen und dunklen Garten zum erleuchteten Fenster seines Vaters, bei dem er Gruschenka vermutet. Es heißt: »Die Tür, die linkerhand aus dem Haus in den Garten führte, war abgeschlossen, er überzeugte sich sorgfältig davon, als er vorbeiging.« [115]   Um herauszubekommen, ob sein Vater allein ist, macht Dmitrij am Fensterrahmen jenes Klopfzeichen, das Smerdjakow mit Fjodor Karamasow für den Fall verabredet hat, dass Gruschenka gekommen sei. Sofort erscheint der Alte am Fenster und flüstert mit erregter Stimme Liebesworte in den dunklen Garten. Dmitrij sieht daraus zwar, dass Gruschenka nicht gekommen ist, doch verursacht ihm das widerwärtige Profil seines Vaters mit dem vorspringenden Adamsapfel unsäglichen Widerwillen. Dmitrij ist seiner Sinne nicht mehr mächtig und reißt den Mörserstößel aus der Tasche.
    Wie wir bereits darlegten, lässt Dostojewskij an dieser Stelle die Schilderung abbrechen. Es folgt ein Bericht über das Verhalten des Dieners Grigorij. Grigorij war ganz unerwartet aufgewacht und verspürte plötzlich den Wunsch, nach dem Rechten zu sehen. Er erblickt das helle Fenster des alten Karamasow und sieht plötzlich – etwa vierzig Schritte von sich entfernt – eine Gestalt durch den Garten rennen. Trotz erheblicher Kreuzschmerzen setzt Grigorij dem Flüchtigen nach und erreicht ihn am Zaun. Dmitrij schlägt mit dem Mörserstößel zu, und Grigorij bricht besinnungslos zusammen.
    All diese Daten erhalten wir im vierten Kapitel des Achten Buchs. Es handelt sich hier um die Aussage Dmitrijs und die rekonstruierte Perspektive Grigorijs. Der Bericht über das Verhalten Grigorijs steht hier schon – ohne dass man uns darauf hinwiese – im Lichte des endgültigen Wissens des Chronisten, das uns erst durch die Referierung der Aussage Smerdjakows zugänglich wird. Was uns hier [116]   mitgeteilt wird, lässt die spätere Aussage Grigorijs noch nicht ahnen.
    Während der »Voruntersuchung«, die im Neunten Buch geschildert wird, überfällt der Staatsanwalt Dmitrij plötzlich mit einer seltsamen Frage: »›Haben Sie nicht darauf geachtet, als Sie vom Fenster wegliefen, ob die Tür zum Garten, die sich am anderen Ende des Seitenflügels befindet, offen war oder nicht?‹
    ›Nein, sie war nicht offen.‹
    ›Sie war es nicht?‹
    ›Im Gegenteil, sie war verschlossen, und wer könnte sie denn auch geöffnet haben?‹ […]
    ›Die Tür stand offen, und der Mörder Ihres Vaters ist zweifellos durch

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