Double Cross. Falsches Spiel
dauert normalerweise Monate, wenn man es richtig machen will. Ich bezweifle, daß sie das vorhaben, aber ganz ausschließen kann ich es nicht.«
»Und Theorie Nummer drei?«
»Kurt Vogel ist der Führungsoffizier eines Agentenrings, von dem wir nichts wissen.«
»Ein ganzer Ring, den wir noch nicht ausgehoben haben? Ist das denkbar?«
»Wir müssen davon ausgehen.«
»Dann wären ja alle unsere Doppelagenten in Gefahr.«
»Es ist ein Kartenhaus. Ein einziger tüchtiger Agent genügt, und die ganze Chose fällt in sich zusammen.«
Vicary zündete sich eine Zigarette an. Das Tabakaroma vertrieb den Nachgeschmack der Suppe.
»Canaris muß unter enormem Erfolgsdruck stehen, wenn er die Operation seinem besten Mann anvertraut.«
»Das heißt aber, daß auch Kurt Vogel unter Druck steht.«
»Richtig.«
»Das könnte ihn gefährlich machen.«
»Aber auch leichtsinnig. Er muß etwas unternehmen. Er muß Funksprüche absetzen oder einen Agenten ins Land schicken.
Und wenn er das tut, kommen wir ihm auf die Schliche.«
Für einen Moment saßen sie schweigend da. Vicary rauchte, und Harry blätterte in Vogels Akte. Dann erzählte ihm Vicary von seinem Erlebnis in der Registratur.
»Es kommt immer wieder vor, daß Akten verlorengehen, Alfred.«
»Das schon, aber warum gerade diese? Und ausgerechnet jetzt?«
»Berechtigte Fragen, aber ich denke, die Antwort ist sehr einfach. Wenn man mitten in einer Untersuchung steckt, ist es besser, man behält das Ziel im Auge und läßt sich nicht ablenken.«
»Ich weiß, Harry«, erwiderte Vicary stirnrunzelnd. »Aber die Sache treibt mich zum Wahnsinn.«
»Ich kenne ein oder zwei Mädchen aus der Registratur«, sagte Harry.
»Davon bin ich überzeugt, Harry.«
»Ich hör mich mal um und klopfe ein bißchen auf den Busch.«
»Aber unauffällig.«
»Das versteht sich von selbst, Alfred.«
»Jago lügt. Er verschweigt etwas.«
»Warum sollte er lügen?«
»Keine Ahnung, Harry«, sagte Vicary und drückte seine Zigarette aus. »Aber ich werde dafür bezahlt, daß ich mißtrauisch bin.«
10
Bletchley Park, England
Der offizielle Name lautete Staatliche Schule zum Entziffern von Codes und Schlüsseln, doch entgegen dieser Bezeichnung handelte es sich keineswegs um eine Schule. Das Gebäude - ein großes, von einem hohen Zaun umgebenes Haus im viktorianischen Stil - sah zwar so aus, als könne es eine Schule beherbergen, doch die meisten Bewohner des verwinkelten Eisenbahnerstädtchens Bletchley ahnten, daß dort Bedeutsameres vorging. Auf dem großen Rasen standen Dutzende behelfsmäßiger Hütten. Das spärliche Gras war niedergetrampelt, und vereiste Schlammwege zogen sich zwischen den Baracken hin. Der ve rnachlässigte Garten glich einem wuchernden Dschungel. Das Personal war ein merkwürdiger, bunt zusammengewürfelter Haufen, bestehend aus den intelligentesten Mathematikern des Landes, Schachmeistern und Kreuzworträtselspezialisten, und alle waren nur zu dem einen Zweck hier versammelt - deutsche Codes zu knacken.
Selbst unter den ausgesprochenen Exzentrikern in Bletchley Park galt Denholm Saunders als komischer Kauz. Vor dem Krieg war er einer der Topmathematiker in Cambridge gewesen.
Jetzt zählte er zu den besten Kryptologen auf der Welt.
Zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Siamkatzen Plato und Thomas von Aquin lebte er in einem Weiler außerhalb von Bletchley.
Es war Spätnachmittag. Saunders saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an zwei Funksprüchen, welche die deutsche Abwehr in Hamburg an deutsche Agenten in Großbritannien geschickt hatte. Die Funküberwachung des MI5 hatte sie abgefangen, als verdächtig eingestuft und zur Entschlüsselung nach Bletchley Park weitergeleitet.
Saunders pfiff unmelodisch vor sich hin, während sein Stift über den Notizblock kratzte, eine Angewohnheit, die seine Kollegen zur Weißglut brachte. Er arbeitete in der Abteilung, in der ohne maschinelle Hilfe entschlüsselt wurde. In dem vollgestopften Raum herrschte bedrückende Enge, aber wenigstens war es relativ warm. Besser hier, als draußen in einer der Baracken, wo die Kryptologen wie Eskimos in einem Iglu kauerten und sich mit den Codes des deutschen Heeres und der Luftwaffe abmühten.
Zehn Minuten später hörte das Kratzen und das Pfeifen auf.
Alles, was Saunders wahrnahm, war das Gurgeln des Regenwassers in den Dachrinnen des alten Hauses. Die Arbeit an diesem Nachmittag hatte ihn in keiner Weise gefordert: Die Funksprüche waren mit der
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