Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
überlegte, was ich wohl getan hatte, um das zu verdienen. Vielleicht gar nichts, vielleicht waren sie – wie Gnade oder Erbarmen – unverdient und wurden freizügig gewährt, fielen vom Himmel wie sanfter Regen. Ich wollte etwas sagen, doch sie hielt eine Hand hoch, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich muss Ihnen etwas sagen«, setzte sie an, »und es fällt mir richtig schwer, es auszusprechen, weil ich weiß, dass es Ihnen schwerfallen wird, es anzuhören. Das mit Isabella tut mir leid – ehrlich, aber das ist nicht der schwere Teil, weil Sie Isabella schließlich kaum gekannt haben. Aber Jess haben Sie gekannt, und Jess haben Sie geliebt, und tief in Ihrem Innern sind Sie, glaube ich jedenfalls, noch nicht über Jess’ Tod hinweg. Noch lange nicht. Ich glaube, Sie sind in einem Irrgarten aus Liebe und Trauer gefangen – mehr, als Ihnen bewusst ist –, und Sie kämpfen schwer darum, den Weg hinaus zu finden. Es sind nicht nur meine Fingerspitzen oder Eddies Hände oder die Eingeweide irgendeines alten Wissenschaftlers, die in Fetzen sind, Dr. B., es ist Ihr Herz. Und nicht die Abwasserrohre von Oak Ridge sind der Irrgarten, sondern Ihr Leben.« Mirandas Worte schockierten mich … schockierten mich mit der Wucht reiner, unvermittelter Wahrheit. »Wenn Sie durch Ihre Arbeit aus dem Irrgarten herausfinden, fein«, fuhr sie fort. »Arbeiten Sie, als hinge Ihr Leben davon ab, denn das tut es. Aber wenn Arbeit nicht der Ausweg ist, dann suchen Sie sich stattdessen einen anderen Weg. Reden Sie mit einem Therapeuten, nehmen Sie ein Sabbatjahr, schaffen Sie sich einen Hund an, gehen Sie auf Pilgerreise. Was immer nötig ist, um Sie zu heilen, tun Sie’s. Tun Sie’s für diejenigen von uns, die Sie lieben. Tun Sie’s für Jess. Tun Sie’s für sich selbst.«
Damit legte sie mir eine Hand an die Wange, küsste mich zart auf die andere und ging dann den Flur wieder hinunter und verschwand um die Ecke. Ich wandte mich wieder dem Licht zu, schob die Tür auf und trat hinaus in die kalte Februarsonne.
Eine leichte Brise seufzte durch die Kiefern auf dem Hügel hinter dem Polizeirevier. Zu meiner Linken hielt gerade ein gelber Schulbus vor dem Eingang des American Museum of Science and Energy. Dutzende von Kindern im Alter meiner beiden Enkel drängten aus dem Bus ins Museum mit seinen Schautafeln und Geschichten über die Geheime Stadt und das Manhattan-Projekt. Unter mir zur Rechten – direkt hinter dem kleinen Flüsschen, das aus einer zwei Meter dicken Betonröhre floss – lagen die kastenförmigen Gebäude der Stadthalle und der Stadtbücherei von Oak Ridge.
Direkt vor mir, hinter den Bäumen, lag ein drittes Ziel, und diesem wandte ich mich zu. Da ich mich ihm von oberhalb näherte, war alles, was ich sehen konnte, ein pagodenähnliches Holzdach. Erst als ich durch den Wald hinunterstieg, kam unter dem schützenden Überstand die lange, zylindrische Friedensglocke in Sicht.
Die Brise frischte ein wenig auf, und totes Laub vom letzten Herbst wirbelte um meine Füße. Die meisten Blätter waren braun, doch einige wiesen noch ein wenig Rot und Gold auf.
Und Magenta.
Als ich näher trat, flatterte vom Fuß der Glocke ein ganzer Schwall magentafarbener Blätter auf mich zu. Doch es war kein Laub. Es waren Papierkraniche, winklig und scharf gefalzt. Origami-Kraniche. Hunderte, vielleicht sogar tausend.
Ich langte in meine Tasche, und meine Finger schlossen sich um hartes Silber und weiche Seidenschnur.
Ich nahm das Symbol für Erinnerung aus meiner Tasche und legte es an den Fuß der Glocke in einen wirbelnden Kranichschwarm.
Der Mensch
Aus: Human Osteology. A Laboratory and Field Manual
von William M. Bass, 4. Auflage 1995. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Missouri Archaelogical Society, Inc.
Der Schädel – Frontalansicht
Der Schädel – Profil
Dank
Viele Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart haben etwas zu dieser Geschichte beigetragen. Vor allem die Legionen von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Soldaten, Bauarbeitern, Calutron-Bedienern und anderen Arbeitern, die dem Manhattan-Projekt zu so einer raschen, spektakulären und ernüchternden Verwirklichung verhalfen.
Etliche Physiker haben uns großzügig ihre Zeit und ihr Wissen zur Verfügung gestellt. Dr. Doran Christensen von REAC/TS hat zahllose Fragen über radioaktive Materialien und akute Strahlenkrankheit beantwortet, ebenso wie der Strahlenschutzexperte von REAC/TS, Steve Sugarman, der Experte vom Energieministerium, Steve
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