Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
Ende näherte, noch etwa zehn Sprossen, setzten Zweifel und Fragen ein. Hatte sie den Gullydeckel überhaupt gesehen, wenn sie kein Licht dabeihatte? Wäre sie in der Lage gewesen, den schweren Deckel hochzudrücken? Würde ich ihn hochdrücken können? Na, wenn du es nicht schaffst, dann ist es ihr wahrscheinlich auch nicht gelungen, dachte ich. Kannst es genauso gut versuchen.
Mit der linken Hand packte ich die oberste Sprosse, lehnte mich in dem senkrechten Schacht ein wenig zurück und drückte an einer Ecke gegen den Gullydeckel. Er rührte sich nicht. Ich packte fester zu und drückte energischer, und der Gullydeckel hob sich leicht. Ich setzte die Füße auf der eisernen Sprosse um und drückte mit mehr Kraft. Der Deckel kippte nach oben – fünfzehn Zentimeter, dreißig, mehr –, und dann löste sich die eiserne Sprosse in meiner Hand aus dem Mörtel, und ich stürzte. Als ich ins Wasser plumpste, raubte mir der Schock des Sturzes und des Eintauchens in das eiskalte Wasser beinahe die Sinne. Ich bemühte mich, die Füße auf den Boden zu setzen, doch die Strömung war zu stark, die Wände zu glatt und ich zu schwach. Ich spürte, wie ich mitgeschwemmt wurde, die dunkle Röhre hinunter, in eisige Vergessenheit. Und dann, als ich schon merkte, wie ich innerlich in die Dunkelheit glitt, schoss ich in tieferes Wasser, in eine von blauen Stroboskoplichtern erhellte Welt, und unsichtbare Hände brachten mich hinauf in Sicherheit.
44
»Okay, Folgendes konnten wir bisher zusammentragen«, sagte Thornton. »Alvin und Theresa Morgan waren junge amerikanische Missionare, die 1935, unmittelbar nach ihrer Heirat, nach Japan gingen. Aufgrund von unglaublichem Pech ließen sie sich in Nagasaki nieder. Im August 1945 war Theresa im achten Monat schwanger. Sie wurde von der Bombe schwer verletzt. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun, doch es gelang ihnen, das Kind zu retten. In japanischen Zeitungen wurde es als ›Nagasaki-Wunder‹ bezeichnet. Das Baby war Isabellas Vater, Jacob Morgan.«
»Was für ein höllischer Start«, sagte ich. »Und dann?«
»Er wurde von einem anderen Missionarsehepaar adoptiert und wuchs in Japan auf. Er heiratete eine Nagasaki-Überlebende – eine junge Frau, Tochter einer japanischen Krankenschwester und eines italienischen Arztes – und nahm den Familiennamen seiner Frau an, Arakawa.«
»Dann ist Isabella nur zu einem Viertel asiatischer Abstammung«, sagte ich. Deswegen sah sie, trotz ihrer dunklen, exotischen Schönheit, nicht japanisch aus. »Aber wie ist sie zur Mörderin geworden? Viele Menschen haben durch die Bombenabwürfe Eltern oder Großeltern verloren, ohne zu Mördern zu werden.«
»Isabellas Mutter starb an Knochenkrebs, als Isabella zehn war. Ihr Vater wurde mit Mitte fünfzig auf Prostatakrebs behandelt. Ich bin mir sicher, dass sie die Bombe für den Krebs genauso verantwortlich machte wie für den Tod der Großmutter. Ich nehme an, für jemanden, der das Leiden einer Nagasaki-Familie rächen möchte, war der Mann, der für den Erfolg des Plutoniumreaktors verantwortlich zeichnete, ein logisches Ziel.«
Miranda schüttelte traurig den Kopf. »Drei Generationen Fallout von Nagasaki«, sagte sie. »Gibt den Begriffen ›Muttersubstanz‹ und ›radioaktives Folgeprodukt‹ eine ganz neue, traurige Bedeutung, nicht wahr?« Niemand lächelte über das grimmige Wortspiel. »Aber wenn Isabella ihr japanisches Erbe so viel bedeutet hat, warum hat sie dann ihren Namen von Arakawa – das war der Name auf ihrer Magisterarbeit – zu Morgan geändert?«
»Vermutlich aus zwei Gründen«, sagte Thornton. »Erstens in Erinnerung an ihre Großmutter, die von der Nagasaki-Bombe getötet wurde. Zweitens, damit ihre Verbindung zu ihrem Vater und zu Japan schwerer nachzuvollziehen war, sobald sie den Stein einmal ins Rollen gebracht hatte.«
»Sagen Sie doch noch etwas dazu, welche Rolle ihr Vater bei dem Ganzen gespielt hat«, sagte ich.
Thornton nickte. »Vergessen Sie nicht, Jacob Arakawa hat seine Mutter und seine Frau und womöglich auch seine Prostata durch die Bombe verloren«, sagte er. »Es ist also gut möglich, dass er seine Tochter in Hass aufgezogen hat. Doch das ist reine Spekulation. Was wir jedoch wissen, ist Folgendes: Vor vier Wochen ist er an dem Tag, an dem seine Firma, Pipeline Services, Inc., Konkurs machte, in Rente gegangen. Vor drei Wochen, das wissen wir anhand der Kreditkartentransaktionen an Tankstellen, ist er von New Iberia nach Oak Ridge
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