Dr. Sex
niemals schließen können, daß draußen in der Welt ein Krieg stattfand. Prok interessierte sich nicht für internationale Politik. Ich nehme an, daß er die Nazis, die italienischen Faschisten und die Japaner ebenso verabscheute wie jedermann, doch das behielt er für sich. Wenn er Corcoran und mich bei einem Gespräch über Midway oder Guadalcanal oder auch nur den Aufruf der Altmetall-Sammelstelle ertappte, wechselte er sofort das Thema. In all den Jahren unserer Zusammenarbeit hat er niemals, nicht einmal nebenbei, eine Bemerkung über politische Ereignisse gemacht. Amerika zündete Atombomben, der Krieg ging zu Ende, Amerika zündete Wasserstoffbomben, der Koreakrieg brach aus und endete, doch Prok sprach über das neueste Sex-Tagebuch, das er erworben hatte, oder seinen Wunsch, Dickinsons Experimente zu wiederholen, bei denen ein Wachsphallus in die Scheide eingeführt wurde, um die Kraft des Afterhebemuskels zu messen. Er widmete sich ganz und gar seiner Aufgabe. Vielleicht war er sogar ein wenig verbohrt. Aber das kann man von praktisch jedem großen Mann sagen.
In dieser Zeit – jetzt, wo ich darüber nachdenke, fällt mir ein, daß es schon 1944 gewesen sein muß – gelang es uns endlich, den bereits erwähnten Sex-Champion zu einem Interview zu überreden. Prok hatte ihn eine Zeitlang umworben, aber er war immer ausgewichen. Er hatte uns per Post Teile seines Sex-Tagebuchs geschickt, aber nicht mit uns sprechen wollen, weil so viele seiner sexuellen Kontakte illegal waren. Was er uns hatte zukommen lassen — Fotografien, Penismaße, Fallgeschichten und Beschreibungen verschiedener sexueller Handlungen mit allen möglichen Partnern, mit Männern, Frauen, Tieren, Kindern, ja sogar Kleinkindern –, war provozierend, viel- leicht sogar abstoßend, aber gleichwohl von unschätzbarem Wert für unser Verständnis der menschlichen Sexualität. Und, wie Prok so treffend sagte, wir waren Wissenschaftler, keine Moralisten. Unsere Pflicht war es, zu beobachten und aufzuzeichnen, ohne ein Urteil zu fällen.
Jedenfalls erkannte Prok instinktiv, daß dieser Mann, dieser Mr. X – so bezeichneten wir ihn in unseren Unterlagen, um absolute Anonymität zu wahren –, durch einen Appell an seine Eitelkeit gewonnen werden konnte. Mr. X hatte sein Leben dem Sex gewidmet, er war unersättlich und auf seine Art wohl ebenfalls ein Sexualwissenschaftler, und daher behandelte Prok ihn von Anfang an wie einen geschätzten Kollegen. Wiederholt pries er ihn in seinen Briefen (»Sie haben gewiß mehr Material gesammelt als wir« und »Dies ist einer der wertvollsten Beiträge, die wir je bekommen haben, und ich möchte Ihnen sehr herzlich dafür danken, daß Sie uns Ihre Zeit geopfert und Auskunft gegeben haben«) und umwarb ihn mit der Aussicht, seine Erfahrungen zu legitimieren, indem er sie von uns aufzeichnen ließ. Er bot Mr. X sogar an, die Reisekosten zu übernehmen, sollte er bereit sein, nach Bloomington zu kommen, doch das lehnte dieser ab. Schließlich erklärte er sich zu einem Gespräch bereit, allerdings unter der Bedingung, daß wir uns, um jedes Aufsehen zu vermeiden, in einem kleinen Ort, etwa hundertfünfzig Kilometer von seinem derzeitigen Wohnort entfernt, trafen.
Prok war überglücklich, als er den Brief erhielt, und tanzte geradezu im Büro herum. »Pack die Sachen, Milk«, rief er, ging mit ausgreifenden Schritten an mir vorbei und streckte den Kopf in das hintere Büro, »und du ebenfalls, Corcoran! Wir machen eine Exkursion!«
An jenem Abend sagte ich Iris nach dem Essen, daß ich eine längere Reise machen würde. Sie sah kaum auf. »Eigentlich«, sagte ich und erhob mich, um ihr beim Abräumen zu helfen, »bin ich diesmal richtig aufgeregt.«
Sie stand an der Spüle. Ich ging zu ihr, ließ die Teller in das Spülwasser gleiten, legte einen Arm um ihre Taille und meine Wange an ihre. »Ach, ja?« sagte sie. »Und warum?«
Der Warmwasserhahn war ganz aufgedreht, und ihre Hände ho- ben und senkten sich. Ihre Stimme war ausdruckslos. »Der Päderast?«
»Ja, aber –«
»Du meinst den, der – mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe –, der mit den Geschlechtsteilen von Kleinkindern in der Wiege herumspielt und kleine Jungen und Mädchen vergewaltigt? Diesen Mr. X?«
»Ach, komm, Iris«, sagte ich, »nun hör schon auf. Er ist bloß ein extremer Fall, das Sahnehäubchen sozusagen, und Prok ist im siebten Himmel.«
Wir sprachen nicht zum ersten Mal über dieses Thema. Mac hatte Mr. X’
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