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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Kragen, nahm die Mütze ab und schüttelte das Haar aus. Den Schal hatte sie zweimal um den Hals gewickelt. Plötzlich war alles wieder in Bewegung, als wäre der Film wieder in den Projektor gefädelt worden: Sie schob ihre Bücher neben meine auf den Tisch, knöpfte den Mantel auf, damit ich sah, wie gut ihr das Kleid stand, und dann zog sie – wer war sie? – den Stuhl zurück und setzte sich auf die Kante. Und da fiel es mir ein. »Du bist Iris«, sagte ich.
Sie schenkte mir ihr volles Lächeln, und das Lächeln war an derselben verborgenen Stromleitung angeschlossen wie die Augen. »Iris McAuliffe, Tommys kleine Schwester. Aber das weißt du ja.«
»Klar. Natürlich. Meine Mutter ... Ich meine, sie ... Und dann hab ich dich irgendwo hier auf dem Campus gesehen ...«
»Du bist verlobt, hab ich gehört.«
Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte – ich wollte auf keinen Fall, daß diese Nachricht auf irgendeine Weise, in irgendeiner Form zu meiner Mutter gelangte –, und so neigte ich den Kopf und trank einen Schluck Kaffee.
Iris’ Lächeln erstarb. »Sie ist sehr hübsch«, murmelte sie. »Laura Feeney, meine ich.«
»Ja«, sagte ich und ließ die Tasse nicht aus den Augen. »Aber ich bin nicht wirklich ... Wir sind nicht ...« Ich sah sie an. Am Rand meines Gesichtsfelds kassierte die Frau hinter dem Tresen einen Kaffee und einen Doughnut, mit Bewegungen, als wäre sie unter Wasser, und außerdem bemerkte ich das schüttere Haar und die schmalen Schultern meines Literaturprofessors, dessen Mantel mit Schnee bestäubt war. »Das heißt, wir haben nur so getan als ob. Für den Ehekurs.«
Es dauerte einen winzigen Augenblick, bis sie diese Information verarbeitet hatte, und dann war das Lächeln wieder da. »Du meinst, ihr habt... ? Nur um ... ? Du liebe Zeit«, sagte sie und ließ sich zurücksinken, mit unruhigen Armen und Beinen und nervösen Händen. »Ich hab gehört, das war richtig schmutzig...«
2
    Ich schrieb Klausuren, ich schrieb Hausarbeiten (»Dualität in John Donnes Liebesgedichten«, »Malinowskis Melanesien«), ich fuhr in den Weihnachtsferien mit dem Bus nach Michigan City und schenkte meiner Mutter ein Sortiment Badeöle sowie Seifen in Form von Muscheln und Meerjungfrauen. Ein paar von meinen alten Highschool-Freunden kamen vorbei, ich erinnere mich besonders an Tommy McAuliffe, der jetzt stellvertretender Geschäftsführer im Lebensmittelladen war – und was für eine Überraschung, daß er seine kleine Schwester Iris mitgebracht hatte! Wußte ich eigentlich, daß sie jetzt auch an der University of Indiana studierte? Da stand sie neben ihm auf der Türschwelle, und obgleich ich sie kaum kannte, dämmerte mir, daß sie eine Frau war, die wußte, was sie wollte, und es immer, wirklich immer bekam. Ich sagte Tommy, ich hätte sie schon auf dem Campus gesehen – an dem Tag nach dem Schneesturm, stimmt’s? –, und sie stand mit ihren immer größer werdenden Meeraugen dabei, als hätte sie das ganz vergessen. Wir saßen am offenen Kamin, aßen Pfeffernüsse und tranken jedesmal, wenn meine Mutter in die Küche ging, um nach ihren Pasteten zu sehen, einen kleinen Brandy. Kurz vor Silvester spielte ich mit dem Gedanken, Iris ins Kino oder zum Schlittschuhlaufen einzuladen, mich also mit ihr zu verabreden, tat es aber schließlich doch nicht. Und dann war ich wieder in der Uni, und die Tage schleppten sich durch die dunkle Trostlosigkeit des Januars.
    Eines Abends, als ich im ersten Stock der Bibliothek Bücher einordnete, sah ich Prok – Professor Kinsey –, der im angrenzenden Gang kniete und die Buchrücken auf dem untersten Bord musterte. Er war in ständiger Bewegung, zog hier und dort ein Buch heraus, schob es gleich wieder zurück und wiegte sich unablässig hin und her, wobei das Knie den Drehpunkt bildete. Es war eigenartig, ihn dort zu sehen – oder nicht so sehr eigenartig als vielmehr unerwartet –, und ich erstarrte für einen Augenblick. Ich wußte nicht, was ich tun sollte: ihn begrüßen, ihn ignorieren, eine Ladung Bücher packen und um die Ecke verschwinden? Und wenn ich ihn grüßte, würde er sich überhaupt an mich erinnern? Er hatte Hunderte von Studenten, und mit praktisch allen hatte er private Befragungen durchgeführt – wie konnte ich erwarten, daß er sich an irgendeinen von uns erinnerte? Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er schien etwas vor sich hin zu murmeln – eine Katalognummer? –, und dann entdeckte er das gesuchte Buch, zog es aus dem

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