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Dr. Sex

Dr. Sex

Titel: Dr. Sex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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ich keine Ahnung von den Durchschnittsmaßen des männlichen Glieds, aber ging es bei diesem Unternehmen nicht genau darum? Kinseys Vorlesung über individuelle Abweichungen von der Norm war doch nichts anderes als der Versuch, uns die Unsicherheit im Hinblick auf Busengröße und Penislänge und dergleichen zu nehmen.
    Ja, sagte ich mir, ich werde nachmessen, und ich werde so ehrlich und gewissenhaft wie möglich sein. Und natürlich stellte ich bei dem Gedanken daran, wie ich das kalte, steife Lineal eines Architekturstudenten an meinen Schwanz drückte, fest, daß ich eine Erektion hatte. Erst da (und bitte verstehen Sie mich nicht falsch) fiel mir Mrs. Lorber ein. Sie saß jeden Abend unten im Salon, strickte und hörte dabei Radio, und ich wußte, daß sie in ihrem Nähkästchen ein weiches, geschmeidiges Maßband aus abgegriffenem gewachstem Stoff hatte, genau das, was man für die wissenschaftliche Untersuchung, die mir vorschwebte, brauchte.
    Na gut. Schön. Im nächsten Augenblick sprang ich die drei Treppen mit den wackligen Stufen hinunter und ignorierte sowohl Tom Tomalins Einladung zu einer Runde Pinokel als auch den anzüg- lichen Gruß von Ben Webber, der seine hundertzehn Kilo schnaufend in sein Zimmer im ersten Stock schleppte. Außer Atem und mit mühsam beherrschter Erregung blieb ich vor der geöffneten Salontür stehen und klopfte an den Rahmen. Mrs. Lorber saß, eine Katze auf dem Schoß, in ihrem Lieblingssessel und strickte etwas Karamelfarbenes. Sie sah nicht auf, doch sie wußte, daß ich da war – sie wußte alles, was in ihrem Haus vor sich ging, keine Bewegung, kein Atemzug ihrer Schützlinge blieb unbemerkt, und sie hatte den Sessel so plaziert, daß sie einen strategischen Überblick über die Eingangshalle und die Treppe hatte und sogleich intervenieren konnte, sollte jemand so dumm sein zu versuchen, Konterbande auf sein Zimmer zu schmuggeln. (Mrs. Lorber war in den Sechzigern, eine breitschultrige, beleibte Frau mit mehreren Kinnen und dem bohrenden Blick eines Adlers: Alkoholische Getränke, Nahrungsmittel, die erhitzt werden mußten, und ganz besonders Frauen waren strengstens verboten.)
    »Ah, entschuldigen Sie, Mrs. Lorber«, murmelte ich.
    Sie musterte mich, und ich erwartete ein Lächeln oder wenigstens ein Nicken, doch ihr Gesicht blieb unbewegt.
»Ich dachte nur, äh ... Ich könnte mir vielleicht Ihr ... Ihr Maßband ausleihen. Nur ganz kurz. Ich bring’s gleich wieder zurück, versprochen.«
Sie stieß einen Seufzer aus, in dem alle kleinen Widrigkeiten, alle Krisen und Katastrophen enthalten waren, in die ihre Studenten sie im Lauf der Jahre gestürzt hatten, beugte sich wortlos nach rechts und kramte in ihrem Nähkästchen. »Hier«, sagte sie schließlich, und ich ging zu ihr und nahm das Maßband in Empfang, »aber bestimmt zurückbringen.«
Ich beugte mich zu ihr und roch die Salbe, mit der sie jeden Abend ihre Beine einrieb, und die warme, hef ige Luft unter ihrem Rock. Die Katze sah mich ausdruckslos an. »Ja«, sagte ich, und ihre kühlen, trockenen Finger berührten meine, als ich das Maßband nahm, »bestimmt. Ich brauche es nur kurz und bringe es gleich wieder.«
Ich war schon beinahe wieder draußen, als sie mich zurückrief. »Was wollen Sie eigentlich damit messen, John? Die Vorhänge? Ich hoffe doch sehr, daß Sie die Vorhänge nicht –«
»Nein, nein, es ist für eine Hausaufgabe. Für mein Literaturseminar.«
»Literatur? Messen Sie Gedichtzeilen? Die durchschnittliche Länge der Zeilen in ›Don Juan‹? Hm?« Sie lachte auf. »Das war ein Gedicht! Wird das eigentlich noch behandelt? Aber nein, natürlich wird es noch behandelt. Von Lord Byron, ja. Das war ein Dichter!«
»Ja«, pflichtete ich ihr bei, »aber ich muß jetzt, äh ... Ich meine, ich muß ...«
»Jaja, gehen Sie nur«, sagte sie und winkte mit beiden Händen. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit einer alten Frau, wenn Sie etwas zu messen haben.«
Ich stapfte die Treppe hinauf. Das Band brannte in meiner Tasche wie ein Stück glühende Kohle. Ich fühlte mich schuldig, schmutzig, vor allem wegen meiner Lüge und wegen des Zwecks, dem ich das makellose Zentimetermaß meiner Vermieterin zuführen wollte, und ich stellte mir vor, wie sie es in die Hand nahm und an den Schal hielt, den sie für ihre Lieblingsnichte oder –enkelin strickte. Ich konnte morgen ein eigenes Maßband kaufen – so was war praktisch, denn man wußte schließlich nie, wann man etwas zu messen hatte, die Höhe und

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